Die Stadt der Heiligen (German Edition)
Schlafkammer war nur noch ein kläglicher Rest übrig. Da er nicht die Schreibstube des Ordens plündern wollte, suchte er nun auf dem Marktplatz nach einem Pergamenthändler.
Er hatte Glück, denn obwohl das Ende des Markttages nicht mehr fern war, konnte er noch einen guten Stapel zugeschnittener Pergamentbögen einkaufen. Er verstaute sie in seiner Tasche und beschloss spontan, noch einen kurzen Umweg über den Parvisch zu machen. Dort würde er seine tägliche Spende in den Opferstock werfen und danach zurück in die St. Jakobstraße gehen.
Um diese Tageszeit hatte sich der Menschenauflauf weitgehend zerstreut. Erst am folgenden Morgen würden die Massen wieder herströmen, um erneut die Reliquien zu sehen. Trotzdem waren noch unzählige Pilger unterwegs, um im Dom zu beten oder die Lustbarkeiten zu genießen, die die Kirmes mit sich brachte. Nicht nur auf dem Markt, sondern in fast allen größeren Straßen und auf den Plätzen der Stadt waren fahrende Gaukler, Höker und Händler zusammengekommen, die entweder ihre Darbietungen oder Waren aus aller Welt feilboten. Rings um den Dom hatten sich die Aachener Kaufleute und Handwerker die besten Verkaufsplätze gesichert, sogar im Innern des Gotteshauses gab es Verkaufsnischen.
Auf dem Parvisch angekommen, konnte Christophorus nicht widerstehen, sich in der Menge treiben zu lassen, die Pilger in ihren oftmals fremdländischen Aufmachungen zu beobachten und an den Auslagen der Händler vorbeizuschlendern. Aus allen Richtungen drangen Trommelwirbel, Musik, Gelächter und Klatschen an seine Ohren. Die Luft war durchzogen von vielfältigen Gerüchen und Düften, denn während der Kirmes durften auf dem Parvisch auch Pasteten- und Pfannkuchenbäcker ihrem Gewerbe nachgehen. Sogar einige Fleischbratereien hielten über offenen Feuern Eintopf und Geflügel oder ganze Fleischkeulen bereit. Das Beten und die geballte Frömmigkeit dieser Tage machten die Pilger hungrig.
Als ihm der Duft von süßen Krapfen in die Nase stieg, blieb Christophorus stehen. Er hatte seit dem Morgen nichts gegessen, und der Anblick des mit Honig und Nüssen gefüllten Gebäcks ließ ihm das Wasser im Mund zusammenlaufen. Spontan kaufte er dem Bäckermeister drei der Krapfen ab, biss in einen von ihnen und ging langsam und genüsslich kauend weiter.
Beim Anblick von Marysa hielt er inne. Sie stand, flankiert von ihren beiden Knechten, hinter einem der Verkaufsstände direkt beim Dom und zeigte gerade einem wohlhabend wirkenden Pilger einen der Schreine aus der Werkstatt ihres Gemahls. Heute trug sie ein Gewand in überaus merkwürdiger Farbzusammenstellung, und wie zuvor schon staunte Christophorus über den Mangel an Geschmack, den sie bei der Wahl ihrer Kleider zeigte. Doch heute war die Kombination, im Vergleich zu den Vortagen, erträglicher. Sonderbar, dass Frau Jolánda, die immer so geschmackvoll gekleidet war, ihrer Tochter in diesen Dingen nicht besseren Rat erteilte.
Christophorus schüttelte den Kopf über sich. Was ging ihn das schon an? Dennoch beobachtete er Marysa eine Weile, ohne dass sie es bemerkte.
Je länger er ihr allerdings beim Verkauf der Reliquiare zusah, desto weniger nahm er ihr gewöhnungsbedürftiges Gewand wahr. Stattdessen fiel ihm auf, dass sie über einiges Geschick als Händlerin verfügte, denn kaum ein Pilger, den sie in ein Gespräch verwickelte, zog ohne ein Reliquiar von dannen. Sie sprach die Leute in offenem, freundlichem Ton an und suchte sich mit einigem Geschick nur diejenigen heraus, die sofort Interesse an ihren Waren zeigten. Dabei bevorzugte sie keineswegs nur die reichgekleideten Patrizier.
Christophorus stand nahe genug, um den größten Teil der Gespräche, die sie mit ihren Kunden führte, verstehen zu können. Und er musste sich eingestehen, dass er mehr und mehr von ihrer Art, mit den Menschen umzugehen, fasziniert war. Kein Vergleich zu ihrem distanzierten, herablassenden Verhalten ihm gegenüber.
Sie schien hinter diesem Verkaufstisch regelrecht aufzublühen, und ihr Gesicht zeigte eine ähnliche entspannte Ruhe wie an jenem Tag, da er sie in ihren Gesang vertieft gesehen hatte.
Während er sie so betrachtete, begann sich etwas in ihm zu regen; der Hauch eines Gefühls, das er bisher noch niemals verspürt hatte und das ihn erschreckte. Es ließ sich jedoch nicht unterdrücken, und so wurde der Wunsch in ihm immer mächtiger, sich möglichst schnell und weit von dieser Frau zu entfernen.
Plötzlich begannen über ihnen die Glocken
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