Die Stadt der Heiligen (German Edition)
Grün der Stickerei würde sich mit dem Hellblau ihres Unterkleides beißen. Sie ging zu ihrer Kleidertruhe und wühlte darin herum. «So ein Ärger», rief sie schließlich in einem raschen Entschluss. «Auf dem Schleier ist ein Fleck, Meister Reinold. Ich muss einen anderen benutzen.»
Reinold, der bereits halb aus der Tür war, drehte sich noch einmal zu ihr um. «Du solltest wirklich ordentlicher sein, Marysa. Nun beeile dich gefälligst. Ich will nicht zu spät kommen. Die besten Plätze im Dom sind schnell besetzt.»
So einfach hatte sie es sich nicht vorgestellt, aber sie zog erleichtert einen weißen Schleier aus der Truhe und befestigte ihn mit dem für ihren Geschmack viel zu plumpen Schapel über der gelbgeblümten Rise. Ein Blick in den Silberspiegel ließ sie die Augen verdrehen. Doch ganz so schlimm war es heute zum Glück nicht. Der weiße Schleier nahm ihrem Kopfputz das Aufdringliche, und sah man davon ab, dass die Farbe ihres Überkleides sich nicht mit ihrem Teint vertrug, so konnte sie jedoch wenigstens in der Gewissheit auf die Straße gehen, sich nicht komplett lächerlich zu machen.
Rasch schob sie eine Börse mit einigen Silbermünzen in den Ärmel ihres Unterkleides und schlüpfte in ihre besten Schuhe. Glücklicherweise hielt Reinold nichts von Schnabelschuhen für Frauen, sodass ihr wenigstens diese Qual erspart blieb. Sie schloss die doppelten Silberschnallen und blickte sinnierend an sich herab. Die Schuhe waren in der Tat der geschmackvollste Teil ihrer Aufmachung.
Als sie Reinold in der Küche ungehalten nach ihr rufen hörte, beeilte sie sich, hinunterzukommen. Gefolgt vom Gesinde, das sich zur Feier des Tages ebenfalls herausgeputzt hatte, wanderten sie den kurzen Weg zur Domimmunität.
Hier war es trotz der frühen Morgenstunde bereits kaum mehr möglich, zum Domportal durchzukommen. Hunderte, nein Tausende Menschen verstopften die Wege und Gassen und drängten sich auf dem Parvisch zusammen, um einen guten Aussichtsplatz zu ergattern.
Reinold hatte recht behalten; auf fast allen Flachdächern im Umkreis drängten sich weitere Pilger, die sich diesen Vorteil leisten konnten. Lautes Stimmengewirr unzähliger Sprachen und Dialekte ließ die Stadt wie einen riesigen Bienenstock summen. Irgendwo in der Ferne ertönte Flötenmusik und das Klappern einer Rassel.
Reinold hatte Marysa am Arm genommen und Grimold und Jaromir vorausgeschickt, damit diese ihnen den Weg mit Ellenbogengewalt freihielten. Aufgebrachte Flüche der zur Seite gestoßenen Pilger wurden laut; eine Frau keifte ihnen Schimpfworte hinterher.
In der Menschenmenge fühlte sich Reinold sichtlich unwohl. Er strebte, so schnell es eben ging, vorwärts. Marysa hingegen genoss den Weg zum Domportal. Sie liebte diese von erwartungsvoller Aufregung geladene Stimmung zu Beginn einer Heiltumsweisung. In solchen Momenten war sie ganz besonders stolz darauf, Bürgerin von Aachen zu sein und an diesem außergewöhnlichen Ereignis teilzuhaben. Aachen war für die nächsten vierzehn Tage das religiöse Zentrum der christlichen Welt, fast so wichtig wie Rom, Santiago de Compostela oder gar Jerusalem.
«Da wären wir endlich», sagte Reinold und schob sie vor sich her durch die weit geöffnete Pforte des Doms. Auch hier drängten sich Menschenmassen. Es roch nach Schweiß und feuchter Wolle, da es bis vor kurzem noch geregnet hatte. Inzwischen lugte die Sonne zwischen den Wolken hervor und sandte ihre Strahlen zu den Pilgern nieder. Die bunten Glasfenster des Domes brachen das Licht unzählige Male und ließen die Heiligenfiguren und das Kreuz über dem Altar beinahe unwirklich aufleuchten.
«Komm, da vorne ist noch etwas Platz.» Reinold schob Marysa weiter vor sich her, bis sie eine Stelle seitlich des Altars erreicht hatten. Von hier aus konnten sie, wenn sie sich auf die Zehenspitzen stellten, über die Köpfe von etwa fünfzig Menschen hinweg den einen oder anderen Blick auf den Priester erhaschen.
Marysa blickte sich um. Grimold, Jaromir und die Mägde standen etwas weiter hinten, schafften es jedoch nicht, weiter zu ihnen aufzuschließen.
Sie waren früh genug hergekommen, um sich einen guten Platz zu sichern, dafür mussten sie nun jedoch noch über eine Stunde bis zum Beginn der Messe warten.
Marysa rieb sich nach einer Weile unauffällig den Rücken, der vom langen Stehen zu schmerzen begann. Auch wurde es immer enger, da mehr und mehr Menschen in den Dom drängten; die Luft heizte sich auf und wurde stickig, sodass
Weitere Kostenlose Bücher