Die Stadt der Heiligen (German Edition)
begleitet. Seither waren weniger als zwei Tage vergangen; Marysa kamen sie jedoch wie Wochen vor. Noch immer spürte sie keinerlei Schmerz, Trauer oder irgendein anderes Gefühl in sich. Lediglich ein Funken Wut flackerte hin und wieder auf. Wut darüber, dass Reinold ihre Warnungen ignoriert hatte.
Als es an der Haustür pochte, stand Marysa auf. Jolánda hielt sie am Arm fest. «Bleib doch sitzen, Kind. Einer der Knechte wird die Tür öffnen. Du solltest dich ausruhen.»
Marysa schüttelte den Kopf und ging schweigend hinaus. Mit gemischten Gefühlen sah Jolánda ihr nach. Marysa hatte den ganzen Tag kaum ein Wort gesprochen.
Sie vernahm die Stimmen von Männern durch die halboffene Stubentür und folgte ihrer Tochter neugierig in die Werkstatt.
«… müssen wir Euch leider mitnehmen, Frau Marysa», hörte sie die letzten Worte des Schöffen van Eupen. Erschrocken rannte Jolánda die letzten Schritte bis zur Tür.
«Was ist hier los?»
Vor dem Haus standen zwei Schöffen, ein Büttel und zwei Kanoniker. Alle machten ernste Gesichter; van Eupen hob, fast wie zur Entschuldigung, beide Hände, als er wiederholte: «Wir müssen Frau Marysa leider mitnehmen und vorerst in die Acht bringen. Der hier anwesende Domherr Ulrich van Kettenyss hat im Namen des Marienstifts Anklage gegen Reinold und Marysa Markwardt erhoben, wegen Handels mit gefälschten Reliquien.»
«Das darf doch wohl nicht wahr sein!», rief Jolánda entsetzt. «Ihr dürft sie nicht mitnehmen. Erst vor wenigen Tagen wurde eindeutig bewiesen, dass Reinold nichts mit dieser Sache zu tun hat. Was soll das?»
Van Kettenyss warf ihr einen strengen Blick zu. «So eindeutig nun auch wieder nicht, gute Frau. Und inzwischen gibt es neue Hinweise und Zeugen, die eine Beteiligung Eures Schwiegersohns in dieser Angelegenheit beweisen.»
«Aber Reinold ist tot!», protestierte Marysa mit zitternder Stimme. Als sie die Handschellen sah, die der Büttel mit sich führte, wurde ihr eiskalt vor Angst.
«Das tut nichts zur Sache», erwiderte van Kettenyss ruhig. «Wir müssen feststellen, inwieweit Ihr ebenfalls damit zu tun habt. Die Fälschung von Reliquien ist eine Handlung gegen die Lehren der Heiligen Römischen Kirche. Ihr wisst wohl, welche Strafen darauf stehen.»
«Aber wir haben nicht …»
«Wir werden sehen», unterbrach van Eupen sie. «Ihr müsst mir glauben, ich tue dies nicht gerne, Frau Marysa. Aber mir bleibt keine Wahl.»
«Ich habe nichts getan!» Marysa wich zurück, als der Büttel sie am Arm packte. Inzwischen hatten sich mehrere Schaulustige vor dem Haus eingefunden, auch ein paar der Nachbarn waren unter ihnen.
«Was geht hier vor?», quäkte die Stimme der Ragna Berscheider. «Was wollt Ihr von Marysa? Ihr dürft sie nicht festnehmen!»
Protest wurde laut, zwei Kaufmänner aus der Nachbarschaft kamen herbei und wollten den Büttel davon abhalten, Marysa die Handschellen anzulegen.
«Zurück, Leute, behindert die Schöffen nicht!», rief der zweite Kanoniker mit erstaunlich lauter Stimme. «Die Frau wird festgenommen. Sollte ihre Unschuld bewiesen werden, so wird ihr nichts geschehen.»
Inzwischen war auch das Gesinde auf den Aufruhr aufmerksam geworden. Grimold und Jaromir wollten Marysa beistehen, wurden jedoch von den Schöffen zurückgehalten.
«Wir bringen sie in die Acht», wandte sich van Eupen an Jolánda. «Sicherlich könnt Ihr für eine der Einzelzellen bezahlen, nicht wahr? Kommt nachher dorthin, wir regeln das.»
«Aber Ihr dürft sie nicht einfach so mitnehmen!» Jolánda wollte dem Büttel folgen, der Marysa unsanft abführte.
Van Eupen hielt sie zurück. «Ihr solltet Euch beruhigen, gute Frau. Es wird ihr kein Leid geschehen, solange die Untersuchungen nicht abgeschlossen sind.»
Jolánda blickte den Männern starr vor Entsetzen nach. Als sich Grimold hinter ihr räusperte, fuhr sie herum.
«Soll ich den Meister Goldschläger holen?»
Jolánda schüttelte den Kopf. «Nein, das soll Tibor tun. Geh du und suche diesen Dominikaner, Bruder Christophorus. Vielleicht kann er uns helfen. Jaromir, lauf los und sag Meister Enno Bescheid.»
***
«Was machen wir nun mit der Frau?», fragte Wolter Volmer, einer der Schöffen, in die Runde seiner Kollegen. Sie hatten sich zu einer kurzfristigen Sitzung eingefunden, da eine Anklage wegen Ketzerei, und darauf lief es wohl hinaus, nicht unter das Freiheitsgebot während der Kirmes fiel. «Wir können doch jetzt keinen Prozess führen.»
«Nicht während der
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