Die Stadt der schwarzen Schwestern
zu Fuß. Ich weiß es, denn wir sind gemeinsam auf Schusters Rappen nach Rom gewandert, wo wir eine Weile am berühmten Collegium Germanicum studierten. Hat er Euch das nicht erzählt, junger Freund?» Ein Ausdruck von Stolz glomm in seinen trüben Augen auf, als er sich die alten Zeiten ins Gedächtnis rief. «Nein, vermutlich hat er das nicht. Kein Wunder, ich begriff ja auch wesentlich schneller als er. Sein Latein reichte kaum aus, um einen Diakon nach dem Weg zur nächsten Kirche zu fragen.»
«Man sieht, wohin Euch Eure rasche Auffassungsgabe gebracht hat, Meister», sagte Don Luis ungerührt.
Der alte Mann hob beleidigt die Augenbrauen. «Was wollt Ihr? Es waren die Umstände, die verhinderten, dass ich die geistliche Laufbahn ergreifen konnte. Dafür genieße ich heute eine Freiheit, von der Euer armseliger Pater in Oudenaarde nur träumen kann, wenn er abends seine Suppe löffelt oder sich heimlich am Messwein vergreift. In Jerusalem war er jedenfalls nie. Er kennt das Heilige Land bestenfalls aus seiner Bibel.»
Don Luis atmete erleichtert auf. Damit war sein alter Mentor für ihn entlastet. «Was ist mit diesem de Lijs? Er ist Kaufmann. Möglicherweise hat er nicht immer mit Wein gehandelt, sondern wesentlich weitere Reisen unternommen als nach Burgund oder Venedig.»
Griet erfasste eine schreckliche Erinnerung. Sie dachte daran, wie sich grobe Hände an ihren Röcken zu schaffen gemacht hatten, und erschauerte. Sich einzureden, das alles wäre nicht geschehen, hätte geheißen, sich selbst zu betrügen. De Lijs hatte wiederholt die Fassung verloren. Als Kaufherr war er daran gewöhnt, zu erreichen, was er wollte. Dass er so unverblümt um sie gefreit hatte, nachdem seine Frau überraschend gestorben war, hatte Griet erschüttert. Dennoch konnte sie sich nur schwer vorstellen, dass er sich für eine alte hebräische Schrift interessierte und dafür sogar den Galgen riskierte.
«De Lijs schien mir damals aufrichtig betroffen, als er vom Verschwinden der schwarzen Schwestern erfuhr», sagte sie zweifelnd.
«Aber es passte ihm gut in den Kram, dass sie wegblieben.» Don Luis runzelte die Stirn. «So glaubte er, Druck auf Euch ausüben zu können.»
«Ja, aber mit dem alten Buch aus Jerusalem hat das nichts zu tun. Außerdem waren de Lijs und Bernhild entfernt verwandt. Das hat er mir selbst gesagt.»
Don Luis vermochte ihr Einwand nicht zu überzeugen. Streit unter Verwandten hatte schon so manches Mal tödlich geendet.
Griet schwirrte der Kopf. Obwohl sie einsah, dass wohl nur einer der vorgeblich unbescholtenen Bürger von Oudenaarde hinter dem Mord an den schwarzen Schwestern stecken konnte, fiel es ihr schwer, Verdächtigungen auszusprechen. «Wir müssen die Frau finden», sagte sie mit Nachdruck. «Diese Cäcilia. Mag sie nun Eure Mutter sein oder nicht: Sie hat das Buch an sich genommen, und nur sie kann uns den Namen des Mörders nennen.»
Als sich Don Luis erneut an Paulus Dorotheus wandte, der das Gespräch schweigend verfolgt hatte, war er höflich zu dem alten Mann. «Könnt Ihr uns noch etwas zu dem Buch sagen? Bitte denkt nach, Meister! Jede Einzelheit könnte wichtig sein.» Um dem Gedächtnis des Alten ein wenig auf die Sprünge zu helfen, zückte er seine Lederbörse und entnahm ihr eine Münze. «Es soll nicht Euer Schaden sein.»
Dorotheus ließ das Geldstück in einer Falte seines langen Mantels verschwinden.
«Das Buch des Aufrechten wird an zwei Stellen der Heiligen Schrift erwähnt», sagte er nach einigem Zögern. «Im Buch des Propheten Samuel wird zum Beispiel vom Tod des Königs Saul berichtet. David ließ dessen Mörder erschlagen, weil der den Gesalbten des Herrn getötet hatte. Seine Totenklage auf Saul, den ersten König Israels, ließ er im sogenannten Buch des Aufrechten niederschreiben. Dort soll auch eine Begebenheit festgehalten worden sein, wonach Gott auf die Worte eines Mannes hin tödliche Steine auf Feinde regnen sowie Sonne und Mond stillstehen ließ.»
Griet überlief ein Schauer. «Ihr meint, in diesem Buch des Aufrechten steht, wie man die Naturgewalten beherrschen und für seine Zwecke gebrauchen kann? Aber damit besäße jeder, der die Schrift deuten kann, größere Macht als Kaiser und Papst zusammen.»
«Gute Frau, ich stelle keine Vermutungen an», sagte der alte Buchhändler. «Ich breite vor Euch einen bunten Teppich aus Legenden, Mythen und Erzählungen aus. Ob Ihr einen Fuß daraufsetzen wollt, ist allein Eure Entscheidung. Ich glaube nicht,
Weitere Kostenlose Bücher