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Die Stadt der schwarzen Schwestern

Die Stadt der schwarzen Schwestern

Titel: Die Stadt der schwarzen Schwestern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Guido Dieckmann
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senkte sich, außerdem gab er im Schlaf keuchende Geräusche von sich. Auch der Alte war also noch am Leben.
    Beelken verspürte heftige Stiche in ihrem Kopf und eine trockene Kehle, aber hier, an diesem entsetzlichen Ort, gab es weder Wasserkrug noch eine Schüssel mit Brot und Käse. Wo auch immer der Vermummte sie hingebracht hatte, es war ein wesentlich düsterer Ort als der Keller in der alten Teppichweberei. Es kam Beelken so vor, als befände sie sich tief unter der Erde, vielleicht in einer Höhle. Demnach waren sie nicht mehr in der Stadt. Die Luft, die sie atmete, war frisch und feucht, doch lag irgendein Geruch in ihr, den Beelken nicht bestimmen konnte. War es Eisen oder Blut? Um sie herum fühlte sie nur blanken, rauen Fels, aus dem Flechten und Moose wuchsen. Als sie die Ohren spitzte, vernahm sie ganz in der Nähe das Geräusch rinnender Wassertropfen, die in einer Pfütze auf dem Boden zerplatzten. Also gab es hier unten Wasser, sie würden nicht verdursten müssen. Nach einer Weile begann sie der Klang der Tropfen allerdings zu quälen.
    «Herr van den Dijcke», flüsterte sie mit tonloser Stimme. «Wachen Sie doch auf!»
    Sie erhielt keine Antwort. Die Wirkung des Betäubungsmittels, das ihr Kerkermeister ihnen verabreicht hatte, schien dem alten Sinter stärker zuzusetzen als ihr. Beelken erinnerte sich, wie der Mann sie im Keller des alten Marx-Hauses gezwungen hatte, die dunkle Flüssigkeit aus Kräutern zu schlucken. Widerstand war nicht möglich gewesen, der Mann hatte gedroht, Basse etwas anzutun.
    Warum tat er das?, fragte sich Beelken nicht zum ersten Mal. Was führte er im Schilde? Und wozu der Mummenschanz, mit dem er sein Gesicht zu verstecken suchte? Glaubte er allen Ernstes, sie damit täuschen zu können? Dass er sie für so dumm zu halten schien, enttäuschte sie beinahe mehr als alles Übrige.
    Und wenn sie versuchte, mit ihm zu reden? Ihn zu überzeugen, dass sie ihm sein neues Leben gönnte und ihm von ihr keine Gefahr drohte? Sie waren doch eins, verbunden durch ein Wunder: das Wunder der Auferstehung, das sie beide miteinander teilten. So, wie sie all die Jahre dahinsiechende Menschen gepflegt hatte, ohne sich anzustecken, war auch er dem Tod von der Schippe gesprungen. Eines Abends hatten sie sogar gemeinsam in der Kapelle des Liebfrauenhospitals gebetet, und sie hatte die Tränen in seinen Augen gesehen. Sie musste ihn herbeirufen. Wenn sie wirklich eins waren, wie sie vermutete, würde er sie hören und zu ihr kommen. Dann konnten sie miteinander reden und beten wie damals. Allein. Weder Sinter noch der Junge sollten sie dabei belauschen. Aber wie sollte sie das anstellen?
    In ihr erstes Gefängnis war er noch jeden Abend gekommen, um nach ihnen zu sehen. Er hatte sie mit Wasser und anständiger Verpflegung versorgt und sich einmal, als Sinter nicht zugehört hatte, erkundigt, wie es ihr und dem Kind ginge. Doch inzwischen war er vorsichtiger geworden, kam nur noch, wenn sie tief und fest schliefen. Sie hätten sich die Lebensmittel, die er brachte, gut einteilen müssen, Sinter jedoch schlang meist alles gleich hinunter. Adelige Herren waren so, Frau Hanna hatte ihr das erklärt. Sie hatten nie gelernt, mit Vorräten sparsam umzugehen. Dafür gab es Ehefrauen und Gesinde, und Bauern, die ihre Höfe bewirtschafteten und ihnen den Zehnten lieferten. Hier unten waren Sinters Befehle nichts wert.
    Beelken stand auf. Ihre Beine fühlten sich geschwollen an und taten bei jeder Bewegung weh. Hinzu kam ihre Leibesfülle, die sie schwerfällig und verletzlich machte. Obwohl sie der Nacken, ihr Bauch und die Hände schmerzten, kroch sie, sich mit beiden Händen am Gestein abstützend, durch den höhlenartigen Schacht. Sie glaubte, ganz vorn ein wenig Licht und einen Luftzug wahrzunehmen. Tatsächlich wurde ihr sonderbares Gefängnis nach wenigen Schritten heller, und sie konnte zu ihrer Erleichterung auch wieder aufrecht stehen. Als sie sich umblickte, bemerkte sie die Umrisse alter Körbe aus geflochtenem Bast, wie sie Bergarbeiter benutzten, um Erz oder Schlacke aus einer Mine hinauf ans Tageslicht zu befördern. Die Leiter, die gleich danebenstand, wirkte stabil, aber sie erinnerte sich nicht, auf einer Leiter an diesen Ort hinuntergestiegen zu sein. Hatte ihr Bewacher ihre Ohnmacht ausgenutzt und sie, Sinter und den Jungen an einem Seil herabgelassen? Stricke lagen genügend auf dem Boden herum.
    Vorsichtig setzte sie einen Fuß auf die erste Sprosse. Das Holz kam ihr morsch vor.

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