Die Stadt der schwarzen Schwestern
unentwegt. Wie ein dickes Tuch breiteten sich die weißen Flocken über den Dächern Brüssels aus. Auch auf den Straßen wurde der Schnee höher. An ein Durchkommen mit Griets Wagen war in den nächsten Tagen nur zu denken, wenn es taute. Doch danach sah es nicht aus. Nervös wandte sie sich um und ballte die vor Kälte starren Hände. Wenn Schnee und Eis so heftig weitertobten, würden sie unterwegs jämmerlich erfrieren, bevor sie das Stadttor von Oudenaarde auch nur aus der Ferne sahen.
«Wir kommen hier nicht weg», sagte Don Luis. «Aber mich tröstet der Gedanke, dass der Sturm vermutlich auch meine … ich meine diese Cäcilia, aufgehalten hat. Ich kann nicht glauben, dass ihr Führer so tollkühn ist, eine ältere Dame, die bereits genug Strapazen erlitten hat, im Schneeregen aus der Stadt zu führen. Sicher verkriechen sie sich irgendwo in Brüssel und warten ab.»
An Cäcilia hatte Griet überhaupt nicht mehr gedacht. Sollte die Frau das Buch der schwarzen Schwestern doch bis ans Ende der Welt bringen, wenn sie so versessen darauf war. Der Spanier konnte ihr nicht mehr gefährlich werden, der saß gefesselt auf seinem Schemel, während Dorotheus um ihn herumschlich und ihm in allen Sprachen und Mundarten, die ihm einfielen, die Pest an den Hals wünschte.
Auf einmal flog die Tür auf, und ein Hauptmann der Brüsseler Stadtwache polterte mit gezückter Waffe in die Kammer. Als er den gefesselten Spanier bemerkte, stutzte er. Er drehte sich zu seinem Begleiter um, der nun ebenfalls über die Schwelle trat. Es war d’Anastro, jämmerlich durchgefroren, aber anscheinend siegessicher. Zuletzt erschien die Wirtsfrau. Sie schleppte sich die Stiege hinauf, in der Hand eine Tranfunzel, und beteuerte bei jedem Schritt, nicht einmal geahnt zu haben, was die Fremden dort oben in ihrer besten Kammer trieben. Der Hauptmann beachtete das Weib kaum, allein, was Gaspar d’Anastro zu sagen hatte, interessierte ihn.
«Sind das die Leute, die sich während des Gastmahls in Euer Haus geschlichen haben, um Euch zu bestehlen?», fragte er den Kaufmann. Seine Stimme klang rau. Bei diesem Wetter auf die Straße zu müssen, anstatt in der trockenen Wachstube Wein zu trinken oder zu würfeln, ging ihm gehörig gegen den Strich.
«Wir sollen gestohlen haben?» Griet schüttelte empört den Kopf. «Behauptet das dieser unverschämte Mistkerl? Sehe ich etwa wie eine Diebin aus?»
«Wie Ihr ausseht, tut hier nichts zur Sache, Frau, wobei …» Der Stadtknecht unterzog Griet einer kurzen Musterung, während der sie schamhaft die Augen niederschlug. Sie bemerkte, dass ihr Arm ihn ebenso irritierte wie die ordentliche Kleidung, die sie trug. Sie hatte sich seit dem Gastmahl im Haus d’Anastros nicht umgekleidet. Gewiss gab es unter den verkrüppelten Bettlern und Vagabunden genügend Langfinger, aber in der Regel fanden diese nicht Unterschlupf in einem Wirtshaus. Griet entsprach keineswegs dem Bild, das der Wächter von einer diebischen Dirne hatte. Er wandte sich Don Luis zu. «Und wer ist dieser Kerl? Ein Spanier?»
Don Luis verneigte sich mit einem spöttischen Lächeln. «Wenn Ihr erlaubt? Zur Hälfte bin ich spanisch, das Blut der Hidalgos fließt durch meine Adern. Aber die andere Hälfte geht auf flämische Krämerleute zurück. Welches der beiden Völker nun auf das Herz Anspruch erhebt, gälte es noch zu ermitteln.» Der junge Mann versuchte, gelassen zu bleiben und sich nicht von der auf ihn gerichteten Lanze einschüchtern zu lassen, doch Griet, die ihn inzwischen besser kannte, bemerkte, wie angespannt er war. Gewiss ärgerte er sich, dass er d’Anastros Talent für finstere Machenschaften unterschätzt hatte.
«Was soll dieser Unfug?», knurrte der Stadtwächter Don Luis an. «Wollt Ihr mich auf den Arm nehmen?»
«Gemeine Diebe lauern überall», warf d’Anastro ein. «Ihr Lohn ist immer derselbe: Man knüpft sie auf.»
«Der ehrenwerte Kaufmann d’Anastro, der sich im Frühjahr in Brüssel niedergelassen hat, beschuldigt Euch, sich in sein Haus eingeschlichen, seine Gastfreundschaft missbraucht und ihn zuletzt auch noch bestohlen zu haben. Er schickte seinen Gehilfen, um das Diebesgut sicherzustellen. Erst als der Mann nicht zu seinem Herrn zurückkehrte, hat d’Anastro die Stadtwache informiert.»
Griet schluckte schwer. In den Augen der Ordnungsgewalt mochte das überzeugend klingen. Der Kaufmann trat zu seinem gefesselten Gehilfen, klopfte ihm auf die Schulter und flüsterte ihm etwas auf Spanisch
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