Die Stadt der schwarzen Schwestern
Temperamentvoll, wohlhabend und geistreich. Aber eben auch eine verheiratete Frau von niederem flämischen Adel, unter deren Fenster Philipp und sein Hofstaat vorbeiritten. Das hielt sie nicht aus. Eines Tages lief sie die Treppe hinauf zu einer der Dachkammern, öffnete das Fenster …» Griet atmete tief durch. Hatte sie all die Jahre darüber geschwiegen, so spürte sie plötzlich, wie die Worte geradezu aus ihr hinausdrängten. Doch niemals hätte sie sich vorstellen können, dass es eine solche Wohltat war, den Kopf an Don Luis’ Schulter zu lehnen und ihm anzuvertrauen, was sie fast ihr halbes Leben lang verheimlicht hatte.
«Ich folgte ihr hinauf und sah sofort, was sie vorhatte. Doch sie ließ sich von mir nicht zurückhalten. Sie stieß das Fenster auf, das auf den Innenhof führte. Ihr kennt ihn, wir sind ja dort gewesen. Ich sehe sie noch vor mir, wie sie ihre Röcke rafft, um leichter über den Fenstervorsprung klettern zu können, und wie sie sich am Dachgebälk festhält. Erst als sie sich aufrichtete, bemerkte sie mich. Einen Augenblick lang verharrte sie ganz still und sah mich an. Da muss sie plötzlich aus ihrem Wahn aufgewacht sein, wenngleich auch nur für einen Moment. Ich sah Angst auf ihrem Gesicht, Verwirrung. Sie rief mir etwas zu, aber ich weiß nicht mehr, was. Ich sprang zum Fenster und erreichte sie in dem Moment, als sie den Halt verlor.»
«Großer Gott», murmelte Don Luis. «Nun kann ich verstehen, warum du es nicht über dich bringen konntest, aus dem Fenster bei Dorotheus zu springen. Du warst noch ein Kind und hast mit ansehen müssen, wie deine Mutter in die Tiefe sprang.»
Griet befreite sich aus seiner Umarmung. «Ich bekam ihre rechte Hand zu fassen, bevor sie fiel. Und ich hielt sie fest, so fest ich nur konnte. Aber ich schrie nicht. Mir war, als wäre ich stumm geworden. Ich brachte die Zähne nicht auseinander. Wäre es mir gelungen, um Hilfe zu rufen, hätte mich vielleicht jemand unten gehört. Mein Vater oder ein Bediensteter. Vater kannte Isabelles Gemütszustand und ließ sie ungern allein. Doch an diesem Tag war er ausgegangen, nur ich war da. Ich zog an Isabelle und biss die Zähne zusammen, denn ich befürchtete, mein eigener Arm würde jeden Moment aus dem Gelenk springen. Ich hatte fürchterliche Angst, und der Schmerz war überwältigend. Ich hatte bis zu diesem Zeitpunkt nicht einmal geahnt, dass etwas so wehtun konnte. Da wusste ich, dass ich sie nicht würde retten können. Es ging einfach nicht, wie sehr ich mich auch mühte. Zu allem Überfluss fürchtete ich, selbst die Balance zu verlieren. Und dann lockerte sich der Griff, sie entglitt mir und stürzte in den Hof hinunter.» Griet deutete auf ihren tauben Arm. «Seither spüre ich ihn nicht mehr. Bestimmt straft mich Gott, weil ich die Hand meiner Mutter losgelassen habe.»
Don Luis hob die Augenbrauen. «Das glaubst du hoffentlich nicht wirklich, Griet? Du warst doch noch ein Kind und nicht verantwortlich für die Entscheidung deiner Mutter. Sie hat deine Hand losgelassen, nicht umgekehrt. Ob sie nun ihrem Leben ein Ende setzen wollte oder nicht, eines wollte sie ganz sicher nicht: dass ihre Tochter ebenfalls stirbt. Sie riss sich los, weil sie Angst hatte, du könntest mit ihr gemeinsam hinunterstürzen. Sie mag krank und verwirrt gewesen sein, aber geliebt hat sie dich gewiss.»
Griet konnte die Tränen nicht zurückhalten. All die Jahre hatte sie, wenn überhaupt, nur mit Groll im Herzen an Isabelle gedacht. Sie hatte ihre Zeit damit vergeudet, sich selbst für etwas zu bestrafen, für das sie nichts konnte. Don Luis hatte recht. Nicht Gott hatte ihr den kranken Arm gesandt, vermutlich hatte sie selbst jedes Gefühl darin abgetötet, weil sie der Meinung gewesen war, auf diese Weise büßen zu müssen. Schluchzend vergrub sie ihr Gesicht in den Händen. Wieder zog Don Luis sie an sich. In seinen Armen spürte sie mehr Frieden als jemals zuvor. Er küsste sie zärtlich, zuerst auf die Stirn, dann auf die Lippen, und hörte erst auf, als Schritte im Flur die Rückkehr des Wachshändlers ankündigten.
Van Dongen machte ein sorgenvolles Gesicht. «Mein Knecht ist zurück. Ich hatte ihn zum großen Marktplatz geschickt, damit er sich dort ein wenig umhört. Er bringt eine gute und eine schlechte Nachricht für Euch.»
«Spannt uns bitte nicht auf die Folter», bat Griet. Obwohl sie ihren Platz in Don Luis’ Nähe nur ungern aufgab, erhob sie sich und ging dem Hausherrn entgegen. Sie wollte nicht,
Weitere Kostenlose Bücher