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Die Stadt der schwarzen Schwestern

Die Stadt der schwarzen Schwestern

Titel: Die Stadt der schwarzen Schwestern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Guido Dieckmann
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hinüber, der sich in einer Ecke zusammengerollt hatte und fest zu schlafen schien. Zwischen den Decken sah sie nur sein graues Haar. Sie würde ihm wohl oder übel später beichten müssen, was sie getan hatte.
    «Also schön, dann schließt euch uns eben an, wenn es unbedingt sein muss. Allerdings hat Tobias gewisse Vorkehrungen getroffen, damit wir unerkannt die Stadt verlassen können. Ihr dürft sie nicht gefährden, indem ihr gleich mit uns geht. Wartet, bis es wieder dunkel wird, dann könnt ihr jenseits der Stadtmauern zu uns stoßen.»
    «Und ihr werdet wirklich auf uns warten?»
    Die ältere Frau seufzte leise. «Ich verspreche es dir.»
    Als Dotteres gegangen war, wagte Cäcilia endlich das zu tun, was sie schon lange vorgehabt hatte. Sie nahm das alte Buch aus dem Leintuch und berührte den brüchigen Einband. Wer mochte ihn angefertigt haben? Ein Araber? Ein Perser? Durch wie viele Hände war die Schrift die Jahrhunderte über gewandert? Hatten die Menschen, die mit ihr in Berührung gekommen waren, verstanden, welche Macht ihr innewohnte? Ein Gefühl tiefer Ehrfurcht durchströmte Cäcilias Körper, während sie vorsichtig die ersten Seiten umblätterte. Dabei wünschte sie sich sehnsüchtig, die wunderlichen Schriftzeichen lesen und deuten zu können, die im Schein der Kohlenglut erschienen. Dass das Buch ihr etwas mitteilen wollte, bezweifelte Cäcilia nicht. Es kannte sie, akzeptierte sie als seine neue Hüterin.
    Cäcilias Atem ging schneller. Mit zitternden Händen blätterte sie um, erst eine Seite, dann eine weitere. Bernhilds Notizen verschwammen vor ihren Augen, als hätte jemand Wasser über ihnen ausgeschüttet. Darunter jedoch erschienen nun ganz klar und deutlich Wörter, die Cäcilia lesen konnte, obwohl sie weder lateinischen noch griechischen Ursprungs waren. Cäcilia spürte, wie ihr vor Aufregung das Blut in den Kopf schoss. Träumte sie?
    Hastig murmelte sie ein Gebet, denn sie erinnerte sich an einen Bibelvers, in dem ein Mann von einem Blitzschlag niedergestreckt worden war, weil er es gewagt hatte, die heilige Bundeslade des Volkes Israel zu berühren. Was also, wenn es ihr nun ebenso erging und das Buch sie für den Frevel bestrafte, es inmitten all dieses Elends aufzuschlagen? Sie war weder der Papst noch ein Bischof, ja nicht einmal mehr eine Ordensschwester.
    Aber das Buch übte Nachsicht, ihr geschah nichts; die fremdartigen Buchstaben fanden sich weiter vor ihren Augen zu Wörtern zusammen, bis sie ganze Sätze zu verstehen glaubte. Manches davon kam ihr bekannt vor, weil es den biblischen Berichten ähnelte, anderes war ihr neu. Eine ganze Weile vertiefte sich Cäcilia in das Buch, wobei sie kaum zu atmen wagte. Dann schloss sie überwältigt die Augen. Sie fühlte Erschöpfung, aber auch ein unbeschreibliches Glücksgefühl.
    Als die Tür aufging und jemand in den Schuppen hineinrief, es habe aufgehört zu schneien, schlug Cäcilia das Buch zu. Sie stand auf und berührte vorsichtig Tobias’ Schultern. «Ich glaube, wir können nun gehen», sagte sie. «Ich bin bereit.»

    Griet konnte nicht umhin, sich selbst verstohlen von allen Seiten zu betrachten. Obwohl sie Don Luis’ Einfall gut fand, war ihr bang, und sie fragte sich, ob die Torwächter sich wirklich täuschen lassen würden. Don Luis versuchte ihre Bedenken zu zerstreuen, indem er sich den Schleier tief in die Stirn zog. Mit einer Geste forderte er sie auf, es ihm gleichzutun.
    Seit einer Stunde standen sie dicht aneinandergedrängt vor einem in die Ummauerung eingelassenen Türmchen und warteten. Griet sah van Dongen ein Stück weiter vorne unruhig auf und ab laufen und wünschte sich, er würde sich etwas weniger auffällig verhalten. Der Wachshändler hatte den Wagen, in dem er sie durch die Stadt bis zum Tor gebracht hatte, in einiger Entfernung abgestellt. Unter der löchrigen Plane lagerten nun ein paar Pfund Bienenwachs. Van Dongens Geschäfte, das hatte er Griet anvertraut, liefen schlechter, seit ihm der Rat von Brüssel verboten hatte, den umliegenden Klöstern Wachs abzukaufen.
    «Das Haupttor wurde schon vor einer halben Stunde geöffnet», flüsterte Griet. Ihre Nerven waren bis zum Zerreißen gespannt. Obwohl sie in der Turmnische nicht zu sehen waren, fürchtete sie doch, ein Wächter könnte sie auf einem Rundgang entdecken. «Wo bleiben sie denn? Vielleicht hat man sie ja schon heute Nacht heimlich aus der Stadt gejagt?»
    Don Luis bezweifelte das. «Van Dongen sagte, sie wurden die ganze Nacht

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