Die Stadt der schwarzen Schwestern
Gefahr war, wurde immer heftiger. Don Luis hatte vorgeschlagen, sich zum Gut Elsegem durchzuschlagen, um von dort aus nachzuforschen, was sich in der Stadt tat. Vielleicht gab es eine Möglichkeit, den kleinen Basse mitsamt Kinderfrau und Großvater unter den Augen der spanischen Besatzer aus Oudenaarde herauszubringen.
«Wir kehren um und versuchen, sie einzuholen», beschloss er. «Ihr Vorsprung kann nicht allzu groß sein. Es hat seit heute früh nicht wieder geschneit, und wir sind bislang auch nur an zwei Wegkreuzungen vorbeigekommen. Wenn wir Glück haben, stoßen wir bald auf ihre Spur.»
Die Priorin bestand darauf, Griet und Don Luis noch ein Stück Brot mit auf den Weg zu geben. Außerdem sprach sie ein Gebet für sie. Der kurze, gemeinsame Fußmarsch über die Felder Brabants hatte genügt, um ein Band der Vertrautheit zwischen Griet, Don Luis und den verbannten Klosterschwestern zu knüpfen. Griet war gerührt. Sie versprach der Nonne, der Muttergottes eine Kerze zu stiften, sobald sie wieder zu Hause war.
Zu Hause. Ob es jemals wieder ein Zuhause geben würde? In Oudenaarde, so viel stand fest, würde sie nicht bleiben können. Ihr Geschäft war ruiniert. Griet hatte keine Ahnung, ob sie noch einmal die Kraft aufbringen würde, von vorne zu beginnen. Aber sie musste es versuchen. Wenn nicht für sich, dann für Basse. Tief in Gedanken strengte sie sich an, mit Don Luis Schritt zu halten.
Die Spuren im Schnee zeichneten sich schwach ab. Eine ganze Weile war nichts weiter zu erspähen als die Abdrücke, die sie und die vertriebenen Klosterfrauen selbst hinterlassen hatten. Erst als sie wieder gefährlich nahe an den Mauergürtel Brüssels gekommen waren, kniete sich Don Luis hin und grübelte. Er fand eine Spur, die in westliche Richtung wies. Es sah so aus, als seien Cäcilia und ihr Begleiter ein Stück zurückgegangen, um etwas zu holen.
Aufmerksam folgten sie den Fußspuren. Griet war froh, als sie sah, dass die Flüchtlinge die Stadt links liegen gelassen und einen Pfad gewählt hatten, der über eine steinerne Brücke führte. Sie wanderten eine halbe Stunde lang weiter, ohne jemandem zu begegnen. Die Wetterbedingungen mochten sich gebessert haben, doch der Schnee lag so hoch, dass Griet mehrere Male einbrach und bis zu den Hüften versank. Don Luis half ihr wieder auf die Füße. So kam es, dass Griet schon nach kurzer Zeit durchnässt und durchgefroren war. Sie tröstete sich mit dem Gedanken, dass es Cäcilia, die etliche Jahre älter war, kaum besser gehen konnte. Auf der anderen Seite graute ihr schon vor dem Heimweg durch die Ardennen. Dieses Gefühl nahm zu, als sie gelegentlich das Geheul wilder Hunde oder Wölfe vernahm, welches aus den nahen Wäldern kam. Don Luis hob im Gehen einen Stock vom Boden auf. Er lächelte Griet aufmunternd zu, doch wusste er so gut wie sie, wie unberechenbar hungrige Wölfe im Winter waren. «Wir müssen schneller gehen und dürfen nicht so oft stehen bleiben», entschied er, wobei seine Augen Felder und Waldrand absuchten.
«Verflixt, die beiden sind doch keine Geister, die sich in Luft auflösen!» Kaum hatte Don Luis das ausgesprochen, machte Griet ihn auf eine Baumgruppe aufmerksam, deren Wipfel sich unter der Last ihrer Schneehauben beugten. Kaum einen Steinwurf davon entfernt machte der Weg eine Biegung, und dahinter versteckten sich die geschwärzten Mauern eines Hauses, das zu besseren Zeiten einmal stattlich gewesen sein musste. Nun aber lag es trostlos da, war kaum mehr als eine Ruine, die von ihren Bewohnern im Zuge der Kriegswirren verlassen worden war. Die Nähe des Hofes zur Stadt hatte sich als verhängnisvoll erwiesen. Wie es aussah, waren die Soldaten verschiedener Lager hier eingekehrt und hatten gewütet, bis kaum mehr ein Stein auf dem anderen geblieben war. Dennoch bot die Ruine den perfekten Unterschlupf für zwei Personen auf der Flucht.
Langsam bewegten sich Griet und Don Luis auf die Baumgruppe zu. Griets Herz klopfte, sie stellte fest, dass auch Don Luis angespannt war. Kein Wunder – möglicherweise würde er noch heute seiner so lange verschollenen Mutter gegenüberstehen.
Plötzlich hielt er an und runzelte die Stirn. «Siehst du das?», fragte er leise. Griet folgte seinem Blick und erkannte gleich, was ihren Begleiter irritierte. Es führten wohl Fußspuren zu dem Haus, aber die stammten eindeutig von mehr als nur von zwei Personen. Vor kurzem mussten noch weitere Personen hier Schutz gesucht haben.
«Was sollen wir tun?»
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