Die Stadt der schwarzen Schwestern
Griet sah sich zögernd um. Abgesehen vom Wind, der wieder stärker geworden war, hörte sie nicht das leiseste Geräusch. Das Wolfsgeheul war verstummt. Griet atmete erleichtert auf.
Don Luis flüsterte ihr etwas zu. Sie schreckte kurz zusammen, nickte dann aber. Ohne zu zögern hielt sie auf den Eingang des Gemäuers zu, der hinter einem laubenartigen Gang lag. Das Spalier reichte bis an eine Brettertür, die zu Griets Überraschung vollständig erhalten geblieben war. Sie quietschte, als Griet sie vorsichtig öffnete. Das Licht fiel durch ein klaffendes Loch im Dach auf den hinteren Teil eines Raumes, in dem der Schnee fast ebenso hoch lag wie im Freien. Es stank nach Abfall und Fäulnis. Plötzlich packte jemand Griet bei der Schulter und stieß sie grob in den Raum. Sie strauchelte und wäre fast zu Boden gestürzt. Als sie den Blick hob, sah sie sich einem älteren bärtigen Mann gegenüber, der sie mit einem Knüppel bedrohte. Tobias, Cäcilias Führer, ging es ihr durch den Kopf. Sie hörte, wie sich hinter ihr etwas bewegte. Hinter Mauerresten und Möbelstücken kamen einige Menschen zum Vorschein, darunter Frauen und sogar Kinder. Ein Mädchen und ein Junge. Unschlüssig standen sie da, stumm, während der Mann mit dem Knüppel Griet unter das Loch im Dach trieb. Er wollte genügend Licht haben, um sie anzusehen.
«Hört zu», fing Griet zu sprechen an. «Ihr braucht vor mir keine Angst zu haben. Ich …» Die drohende Gebärde des Bärtigen überschnitt sich mit dem Aufschrei des Jungen, der plötzlich auf Griet losstürmte und sie mit seinen kleinen Armen umfing.
Griet stockte. «Du, kleiner König? Beim heiligen Rochus, was hast du hier zu suchen?»
Der Junge grinste über das ganze Gesicht. Als Griet ihm kurz übers Haar strich, sagte er: «Wir verlassen Brüssel, genau wie Ihr. Wo ist Don Luis?» Enttäuscht registrierte das Kind, dass Griet allein war. «Habt Ihr Euch verloren?»
«Don Luis?» Erst jetzt nahm Griet die hochgewachsene Frau war, die wie sie noch in der Tracht der Ordensfrauen steckte. Im Gegensatz zu Griet, die sich darin nicht behaglich fühlte, trug sie die dunkle Gewandung so würdevoll, als hätte sie niemals etwas anderes angehabt. Der strenge Schleier gab nicht viel von ihrem Gesicht preis, allein ein paar graue Haare fielen ihr locker über die Stirn. Es war ein kluges Gesicht, befand Griet. Ein Gesicht, in das sich Freude und Schmerz gegraben hatten, welches aber vor allem eines zeigte: Willensstärke. Griet fand Cäcilia sogleich bewundernswert. Ihr Blick fiel auf den länglichen Gegenstand, den die Frau in ein Stück Leinen geschlagen in der Hand hielt. Ihr Herz begann wild zu klopfen. Das Buch des Aufrechten , ja, das musste es sein. Sie hatte es endlich gefunden und mit ihm die Frau, die es behütete wie ihren Augapfel. Dem Umfang des Pakets nach war der Text keine Schriftrolle, sondern wirklich ein Buch.
«Der Kleine scheint Euch zu kennen», knurrte der Bärtige hinter Griet. «Dankt ihm für Euer Leben, denn wäre er nicht, hätte ich Euch den Schädel eingeschlagen, falsche Nonne!»
Eine weitere Frau, jünger als Cäcilia, doch mit derselben entschlossenen Miene, trat nun näher ins Licht, um Griet zu mustern. An ihrer Hand hing ein blondes Mädchen, das Griet ängstlich anstarrte.
«Vergiss nicht, dass auch ich nun eine falsche Nonne bin, Tobias», sagte Cäcilia ruhig. Ihr Blick befahl dem Mann, seinen Knüppel sinken zu lassen und zum Eingang zu gehen. Dann wandte sie sich Griet zu. «Warum verfolgt Ihr mich? Und von welchem Don Luis spricht der Junge?»
Griet wollte gerade antworten, als über ihnen ein knirschendes Geräusch zu hören war. Jemand lief über das Dach. Die Frau neben ihr blickte erschrocken hinauf. Auch der Bärtige drehte sich um, doch bevor er reagieren konnte, sprang Don Luis auch schon durch die Dachöffnung. Mit ihm fielen Schnee und Eiszapfen in den Raum. Unmittelbar nachdem Don Luis auf seinen Füßen gelandet war, schleuderte er Tobias einen Ziegelstein gegen die Brust. Der Mann stöhnte auf, wankte und ließ seinen Knüppel fallen. Griet hob ihn geistesgegenwärtig auf.
«Das ist Don Luis», sagte Griet nicht ohne Stolz, wobei sie den Beschützer der letzten schwarzen Schwester nicht aus den Augen ließ. «Kommt er Euch nicht bekannt vor?»
Don Luis starrte die Frau in dem schwarzen Nonnengewand an, sagte aber kein Wort. Endlose Augenblicke verstrichen, bevor Cäcilia einen Schritt auf den jungen Spanier zuging. «Habe ich mich so
Weitere Kostenlose Bücher