Die Stadt der schwarzen Schwestern
verzog schmerzerfüllt das Gesicht, weil sich etwas Spitzes in ihre Ferse bohrte: ihr Kruzifix. Ihr Rücken schmerzte, als sie sich bückte. Er erinnerte sie daran, dass sie kein junges Mädchen mehr war, sondern eine reife Frau, die beschlossen hatte, ihr Leben hinter den Mauern eines Klosters zu beschließen. War es da nicht närrisch, zu dieser Stunde zwei ihrer Mitschwestern zu verfolgen? Doch deren Geheimniskrämerei war so merkwürdig, und nach der Regel des Augustinus galt es geradezu als Pflicht, andere vor Fehlern zu bewahren. Sie würde erst einmal ergründen, welche Dummheiten die beiden anstellten.
Lautlos folgte Cäcilia den Frauen durch das schlafende Haus. Sie vermutete, dass die beiden sich mit Bernhild treffen wollten, deren Kammer in einem Seitenflügel lag. Zu ihrer Verwunderung schlugen die Nonnen aber den Weg zum Spital ein. Cäcilias Aufregung wuchs. Wie töricht sie sich benahm; vielleicht war eine der Schwestern plötzlich krank geworden und ließ sich von der anderen lediglich zur Apothekerin begleiten? Nein, das ergab auch keinen Sinn.
Nachdem die Nonnen in dem Krankensaal verschwunden waren, erwachte ihr Argwohn wieder. Aus dem Spital drangen mehrere Stimmen, unter ihnen auch die Bernhilds.
Also doch, dachte Cäcilia grimmig. Sie eilte zurück durch den Gang, verließ das Kloster durch die Pforte, die zum Kräutergarten führte, und schlich in geduckter Haltung an der Mauer entlang. Es gab ein Fenster im hinteren Teil der Arzneistube, das so gut wie nie geschlossen wurde. Wenn sie sich Mühe gab, konnte sie lauschen, was ihre Mitschwestern mitten in der Nacht zu bereden hatten. Cäcilia räumte leise einige der Tontöpfe zur Seite, die vor dem Fenster aufgereiht standen. Dann spähte sie in den Raum hinunter.
Mit Ausnahme von Cäcilia hatten sich alle schwarzen Schwestern in der Arzneistube versammelt. Sogar die achtzigjährige Schwester Bartimäa aus Breda war dabei, die so taub war, dass sie der Messe nur noch mit einem Hörrohr folgen konnte. Sie standen um einen Tisch herum, auf dem eine Kerze flackerte. Die Frauen schwiegen und hielten die Köpfe gesenkt. Bernhild trug etwas unter dem Arm, was sie nun in die Mitte des Tisches legte. Cäcilia versuchte, einen Blick auf den Gegenstand zu werfen, doch es war viel zu dunkel dafür. Erst als Bernhild zur Seite trat, um von einem Wandbord einen Krug zu holen, sah sie, dass es sich um ein Buch handelte. Ein sehr altes Buch, wie der Einband verriet. Es lag auf einer Decke, die an ein Altartuch erinnerte. Während Bernhild reihum Becher mit dem Inhalt des Kruges füllte, berührten die Schwestern, eine nach der anderen, das sonderbare Buch ehrfürchtig mit Mittel- und Zeigefinger. Cäcilia verfolgte gebannt, wie Bernhild ihren Schwestern die Becher reichte und sie aufforderte, einen Schluck daraus zu nehmen.
«Wir sind die Hüterinnen der Schrift», sagte die Vorsteherin plötzlich, worauf die anderen ihr im Chor antworteten: «Die Hüterinnen eines heiligen Vermächtnisses.»
«Wir geben unser Leben für das Licht, das wir empfangen haben.»
Der Chor flüsterte: «Es wird uns und eines Tages alle Menschen ins Licht führen.»
Bernhild wirkte zufrieden; sie nahm noch einen Schluck aus ihrem Becher. Cäcilia hielt den Atem an. Sie konnte kaum glauben, was sie sah und hörte. Ausgerechnet die fromme Bernhild, die Cäcilia verdächtigt hatte, nur ins Kloster eingetreten zu sein, um vor Ketzerjägern sicher zu sein, feierte dort unten im Spital der Dominikanerinnen heimlich ein Ritual. Sie hatte ein Buch in ihrem Besitz, dem sie offen Ehrerbietung entgegenbrachte, das sie sogar mit ihrem Leben verteidigen wollte, und ihre Mitschwestern waren alle eingeweiht. Cäcilia sah, wie die Frauen sich nun auf Schemeln niederließen und ihre Köpfe über das sonderbare Buch beugten. Bernhild verfiel in ein monotones Gemurmel, von dem Cäcilia zu ihrer Enttäuschung keine Silbe mehr verstand. Wie es schien, trug sie ihren Schwestern aus dem Buch etwas vor. Von Zeit zu Zeit hielt sie inne und hob erwartungsvoll den Blick. Ein Stöhnen erklang.
Cäcilia hatte genug gesehen. Sie schlug ein Kreuz und sprach ein kurzes Gebet, was ihre Aufregung jedoch nicht minderte. Im Gegenteil, sie bekam entsetzliche Angst. Ihre Welt, die bis heute in Ordnung gewesen war, hatte plötzlich Sprünge bekommen. Es war nur eine Frage der Zeit, bis sie in viele Scherben zerbrach. Sie musste fort von den schwarzen Schwestern, die fromm taten, aber mit ihren Heimlichkeiten ihr
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