Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Stadt der Singenden Flamme - Die gesammelten Erzaehlungen - Band 1

Die Stadt der Singenden Flamme - Die gesammelten Erzaehlungen - Band 1

Titel: Die Stadt der Singenden Flamme - Die gesammelten Erzaehlungen - Band 1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clark Ashton Smith
Vom Netzwerk:
die Lehre vom Vergessen; seltsam und unerinnerlich wie das verlorene Wissen des Schlafs. Aber ihren Namen vertraute sie ihm nicht an, noch das Geheimnis ihrer Natur. Und noch immer wusste er nicht, ob sie ein Spuk war oder eine Frau, eine Göttin oder ein Gespenst.
    In ihrer Rede lag etwas über die Zeit und ihr Geheimnis; etwas von dem, das auf ewig jenseits der Zeit harrt; etwas von dem grauen Schatten des Verderbens, der über Welt und Sonne droht; etwas von der Liebe, die ein stets ihr entfliehendes, ersterbendes Feuer verfolgt; vom Tod, dessen Boden alle Blumen entsprießen und vom Leben, das eine Illusion der gefrorenen Leere ist.
    Eine Zeit lang war Tortha damit zufrieden, lediglich zu lauschen. Ein äußerstes Entzücken erfüllte ihn, er fühlte die Ehrfurcht eines Sterblichen in der Gegenwart einer Gottheit. Dann, als ihm die Situation vertrauter wurde, sprach ihn die weibliche Schönheit der Seherin nicht weniger an als ihre Stimme. Zaghaft, Zoll um Zoll, wie eine Flut, die einem unirdischen Mond entgegenschwillt, erwuchs in seinem Herzen die menschliche Liebe, die zur Hälfte seine Anbetung ausmachte. Er verspürte ein wahnsinniges Verlangen, vermengt mit dem Schwindel von jemandem, der eine unerreichbare Höhe erklommen hat. Er sah nur die weiße Anmut ihrer Göttlichkeit und vernahm nicht länger mehr die hohe Weisheit ihrer Rede.
    Die Seherin hielt in ihrem unbeschreibbaren Vortrag inne – und irgendwie, mit zögerlichen, stammelnden Worten, wagte er es, ihr seine Liebe zu gestehen.
    Sie gab keine Antwort, tat auch keine Geste der Billigung oder Ablehnung. Doch als er ausgeredet hatte, sah sie ihn sonderbar an, ob voll Liebe oder Mitleid, voll Trauer oder Freude, vermochte er nicht zu sagen. Dann beugte sie sich rasch vor und berührte seine Stirn mit ihren blassen Lippen. Ihr Kuss war wie das Sengen von Eis oder Feuer. Doch blind in seinem irrsinnigen Verlangen begehrte Tortha gedankenlos, die Seherin in seine Arme zu schließen.
    Furchtbar, unaussprechlich war die Verwandlung, die sie in seiner Umarmung durchlief … und sich in einen froststarren Leichnam verwandelte, der Jahrhunderte lang in einer eisigen Gruft gelegen hatte – eine leprös weiße Mumie, in deren reifbedeckten Augen Tortha das Grauen der äußersten Leere las.
    Im nächsten Moment war sie ein Etwas, das weder Gestalt noch Namen besaß – eine schwarze Fäulnis, die in seinen Armen gärte und zerrann –, dann ein farbloser Staub, ein Schwarm flimmernder Atome, der zwischen seinen betrogenen Fingern emporstieg.
    Schließlich war nichts mehr von ihr da – und auch die Märchenblumen um ihn herum verwandelten sich, zerstäubten im Nu, lösten sich auf im Gestöber weißen Schnees. Der weite, violette Himmel, die hohen, schlanken Bäume, der magische Fluss ohne Spiegelungen, sogar der Boden unter Torthas Füßen – alles verlor sich in den allumfassenden, wirbelnden Flocken.
    Tortha kam es vor, als fiele er benommen in eine abgrundtiefe Kluft, gemeinsam mit jenem Chaos aus stiebendem Schnee. Während er stürzte, wurde die Luft um ihn herum klar. Er schien frei über dem abziehenden, ersterbenden Sturm zu schweben, hing allein in einem stummen, düsteren, sternlosen Himmel. Unter sich erblickte er in furchtbarer, schwindelerregender Ferne die matt funkelnden Gefilde eines Landes, das von Horizontkrümmung zu Horizontkrümmung von Gletschereis überzogen war. Die Schneeflocken waren aus der toten Luft gewichen und eine sengende Kälte, gleich dem Atem des unendlichen Äthers, hüllte Tortha ein.
    All dies sah und fühlte er für die Dauer eines zeitlosen Augenblicks. Dann begann er wieder mit kometengleicher Schnelligkeit in Richtung des erfrorenen Kontinents zu stürzen. Und wie ein sausender Kometenschweif verglomm sein Bewusstsein und erlosch in der dünnen Luft, noch während er fiel.
    Tortha war von den halbwilden Bergbewohnern gesichtet worden, als er in dem plötzlichen Sturm verschwand, der auf geheimnisvolle Weise von Polarion her aufgezogen war. Später, als das blendende Gestöber sich gelegt hatte, fanden sie ihn. Sie entdeckten ihn auf einem Gletscher liegend und verarzteten ihn mit derber Kunstfertigkeit, wobei sie sehr über das weiße Mal staunten, das sich wie ein feuerroter Brandfleck auf seiner sonnengebräunten Stirn abzeichnete. Das Fleisch war dort tief versengt, und das Mal hatte den Umriss eines Lippenabdrucks. Sie konnten jedoch nicht wissen, dass dieses niemals mehr verblassende Mal vom Kuss der Weißen

Weitere Kostenlose Bücher