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Die Stadt der Singenden Flamme - Die gesammelten Erzaehlungen - Band 1

Die Stadt der Singenden Flamme - Die gesammelten Erzaehlungen - Band 1

Titel: Die Stadt der Singenden Flamme - Die gesammelten Erzaehlungen - Band 1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clark Ashton Smith
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Ein wahnsinniges Liebesfieber setzte sich in seiner Seele fest, begleitet von der Gewissheit, dass er eine unmögliche Erfüllung suchte. Um die Stunden zu vertreiben, schrieb er müßig die Gedichte ab, die er während seiner Reise verfasst hatte, oder blätterte durch die Manuskripte seiner Jugendjahre. All diese Dinge waren nun gleichermaßen leer und sinnlos, so wie das welke Laub eines verflogenen Herbstes.
    Ohne Torthas Zutun brachten seine Diener und seine Gäste die Sprache auf die Seherin. Nur selten, sagten sie, hatte sie Cerngoth betreten. Häufiger tauchte sie in Städten auf, wie sie weitab von der eisigen Wüste Polarions lagen. Wahrlich, sie war kein sterbliches Geschöpf, denn man hatte sie am selben Tag an Orten gesehen, die Hunderte Kilometer auseinanderlagen. Manchmal hatten Jäger sie auf den Bergen oberhalb Cerngoths angetroffen. Doch war sie bei solchen Begegnungen immer rasch verschwunden wie ein Morgendunst, der zwischen den Felsklüften verfliegt.
    Der Dichter, der mit mürrischer und geistesabwesender Miene zuhörte, sprach zu niemandem von seiner Liebe. Er wusste nur zu gut, dass seine Verwandten und Bekannten diese Leidenschaft als einen weit irrigeren Wahn betrachten würden denn die jugendliche Sehnsucht, die ihn in unbekannte Länder geführt hatte. Kein menschlicher Liebender hatte jemals nach der Seherin getrachtet, deren Schönheit ein gefährliches Gleißen war, verwandt dem Meteor oder der Feuerkugel; eine verhängnisvolle und tödliche Schönheit, geboren aus transarktischen Schlünden und irgendwie eins mit dem fernen Verhängnis von Welten.
    Als wäre er von Feuer oder Frost versengt, brannte die Erinnerung an die Seherin in Tortha. Wenn er über seinen vernachlässigten Büchern grübelte oder im Freien umherstreifte und dabei Tagträumen nachhing, die kein äußerer Einfluss zu stören vermochte, stand ihm stets der bleiche Glanz der Seherin vor Augen. Ein Wispern aus nördlichen Einöden schien an sein Ohr zu dringen; ein Murmeln von ätherischer Süße, schneidend wie Eisluft, das in hell klingenden, unirdischen Worten von unberührten Horizonten sang und von der eisigen Pracht lunarer Polarlichter über Kontinenten, wohin Menschen nie vordringen werden.
    Die langen Sommertage rückten heran. Sie brachten Fremde nach Cerngoth, die Handel mit Pelzen und Daunen trieben, und schmückten die Berghänge hinter der Stadt mit einem Damastgrund aus Blüten von leuchtendem Azurblau und Zinnoberrot. Doch die Seherin brachten sie nicht wieder nach Cerngoth, noch hörte man von ihr in anderen Städten. Ihre Besuche schienen beendet, so als hätte sie die Botschaften, die ihr die Äußeren Götter anvertraut hatten, überbracht und werde hinfort nicht mehr in der Menschenwelt erscheinen.
    Inmitten all der Verzweiflung, die ein Zwilling seiner Leidenschaft war, hatte Tortha gehofft, dass er der Erscheinung erneut begegnen werde. Diese Hoffnung wurde allmählich schwächer, seine Sehnsucht hingegen nicht. Nun dehnte er seine täglichen Märsche weiter aus, ließ die Häuser und Straßen hinter sich und wandte sich den Bergen zu, die über Cerngoth aufragten und die von Gletschern bezwungene Hochebene Polarions mit eisigen Hörnern verteidigten.
    Mit jedem Tag stieg er höher in die Berge und erhob den Blick zu den dunklen Steilhängen empor, von denen die Seherin den Gerüchten zufolge herabzusteigen pflegte. Ein geheimnisvoller Ruf schien ihn voranzutreiben. Und doch scheute er sich immer wieder, der Aufforderung bis zum Ende zu folgen, und kehrte stattdessen jedes Mal nach Cerngoth zurück.
    Dann kam der Vormittag, an dem er zu einer Bergwiese emporstieg, von der aus betrachtet die Dächer der Stadt wie verstreute Muscheln am Saum eines Meeres aussahen, dessen hochtürmende Wogen zu einem türkisgrünen Teppich geglättet waren. Er war allein in einer Welt aus Blumen: ein hauchfeiner Mantel, den der Sommer vor den öden Gipfeln ausgebreitet hatte. Allseits um ihn dehnte sich die Grasmatte in breiten Bahnen und lodernden Farben. Sogar die Wildrosen öffneten ihre zarten, blutfarbenen Knospen und die tiefer liegenden Hänge und Felswände waren in üppige Blütenpracht gekleidet.
    Tortha war keiner Menschenseele begegnet, denn längst hatte er den Pfad verlassen, auf dem die untersetzten Gebirgsbewohner in die Stadt gelangten. Ein unbestimmter Antrieb, dem eine wortlos ausgesprochene Verheißung innezuwohnen schien, hatte ihn zu dieser luftigen Wiese geleitet, von der aus ein

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