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Die Stadt der Singenden Flamme - Die gesammelten Erzaehlungen - Band 1

Die Stadt der Singenden Flamme - Die gesammelten Erzaehlungen - Band 1

Titel: Die Stadt der Singenden Flamme - Die gesammelten Erzaehlungen - Band 1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clark Ashton Smith
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Zeit lang konnte Tortha die Seherin noch erkennen, so wie man das matte Glühen einer heiligen Lampe durch die Altarvorhänge wahrnimmt, die in einem großen Tempel herabhängen. Dann wurde der Schnee dichter, bis Tortha den ihn geleitenden Schimmer nicht mehr sah. Er wusste nicht, ob er noch zwischen engen Felswänden durch den Pass stapfte oder sich auf einer grenzenlosen Ebene ewigen Winters verirrt hatte.
    Er rang um Atem in der vom Sturm erstickten Luft. Das helle weiße Feuer, das ihn aufrecht gehalten hatte, schien in seinen eisigen Gliedmaßen zu erlöschen. Seine überirdische Beseeltheit und Leidenschaft erstarben und ließen eine finstere Erschöpfung zurück, eine allumfassende Taubheit, die sein ganzes Sein ausfüllte. Das strahlende Bild der Seherin war nicht mehr als ein Stern ohne Namen, der mit allem anderen, das er je gewusst oder geträumt hatte, in graue Vergessenheit stürzte …
    Tortha öffnete die Augen in einer fremdartigen Welt. Ob er im Sturm niedergestürzt und gestorben oder irgendwie durch dessen weiße Leere vorwärts gewankt war, vermochte er noch nicht einmal zu erraten: Doch um ihn herum herrschte nun keine Spur mehr des treibenden Schnees oder der von Gletschern in eisige Ketten geschlagenen Berge.
    Er stand in einem Tal, das wie das innerste Herz eines polaren Paradieses wirkte – einem Tal, das ganz sicher kein Teil des öden Polarion war. Rings um ihn her war der Rasenteppich mit Blüten bestickt, die die zarten und blassen Farben des Mond-Regenbogens besaßen. Ihre fragile Gestalt war die von Schnee- und Eisblumen, und es schien, als würden sie bei der ersten Berührung schmelzen und vergehen.
    Der Himmel über dem Tal war nicht das niedrige, türkisfarbene Himmelsgewölbe von Mhu Thulan. Vielmehr war er undeutlich, traumartig, fern und von einem verschwommenen Violett, gleich dem Himmelsdom einer Welt jenseits von Zeit und Raum. Überall strahlte das Licht, doch Tortha sah keine Sonne in dem wolkenlosen Firmament. Es war, als wären die Sonne und der Mond und die Sterne schon vor vielen Zeitaltern ineinandergeschmolzen und zu einem letzten, ewigen Leuchten zerronnen.
    Hohe, schlanke Bäume, deren mondgrünes Laub mit Blüten so zart wie die Wiesenblumen dicht bestirnt war, wuchsen in Gruppen über das Tal hinaus und säumten einen ruhigen Flusslauf, dessen Windungen sich in unermesslichen, nebeligen Fernen verloren.
    Tortha bemerkte, dass er keinen Schatten auf den blütenbesäten Boden warf. Auch die Bäume besaßen keine Schatten, noch spiegelten sie sich in dem klaren, ruhigen Gewässer. Kein Wind bewegte die blütenbeladenen Zweige oder rührte die zahllosen Blumen im Gras. Eine geheimnisschwangere Ruhe brütete über allem gleich dem Schweigen irgendeines unirdischen Verhängnisses.
    Von höchstem Staunen erfüllt, doch unfähig, sich die Situation zu erklären, wandte der Dichter sich um, als gehorchte er dem Befehl einer gebieterischen Stimme. Hinter ihm und ganz in der Nähe hatte sich eine Laube voller üppig knospender Schlinggewächse gebildet, die sich girlandenartig von Baum zu Baum rankten. Durch den halb offenen Blütenvorhang im Herzen der Laube erblickte er gleich aufwirbelndem Schnee die weißen Schleier der Seherin.
    Mit zaghaften Schritten und mit Augen, die kaum zu der rätselvollen Schönheit der Seherin aufzuschauen wagten, im Herzen ein Lodern wie von hochschlagenden Flammen, trat Tortha in die Laube ein. Und die Seherin erhob sich von der Blütenbank, auf der sie geruht hatte, um ihren Verehrer zu empfangen …
    Das, was darauf folgte, hatte Tortha nachher größtenteils vergessen. Es war wie ein Licht, das zu hell strahlte, um es zu ertragen, ein Gedanke, der sich aufgrund seiner äußersten Fremdartigkeit menschlichem Begreifen entzog. Es war wirklicher als alles, was Menschen für wirklich erachten: Dennoch erschien es Tortha, als wären er, die Seherin und all das, was sie beide umgab, Teil einer verspäteten Fata Morgana in der Wüste der Zeit; als befände er sich unsicher über Leben und Tod erhoben in einer lichten, ätherischen Laube der Träume.
    Er glaubte, die Seherin habe ihn mit erregenden, lieblichen Worten aus einer Sprache willkommen geheißen, die er gut kannte, aber nie zuvor vernommen hatte. Ihre Stimme erfüllte ihn mit einer Verzückung, die an Schmerz grenzte. Er saß neben ihr auf der Blütenbank und sie vertraute ihm viele Dinge an: göttliche, gewaltige, gefährliche Dinge; schrecklich wie das Geheimnis des Lebens; süß wie

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