Die Stadt der tausend Schatten: Roman (German Edition)
kommt näher, sodass kaum noch Raum zwischen uns ist. Und mir fällt auf, dass seine Nähe nichts von Catchers Hitze mit sich bringt und dass nichts in mir seine Nähe sucht.
»Würdest du darauf verzichten wollen?«, flüstert er.
Würde ich das?War das nicht das erste Mal, dass ich mich überhaupt schön gefühlt habe?
»Ich weiß nicht.« Das ist die einzige ehrliche Antwort, die ich geben kann.
Sein Gesichtsausdruck verändert sich, nur ein bisschen, so als ob er einen kleinen Sieg errungen hätte. »Wenn du bereit bist, auf diese Erfahrung zu verzichten und auf alle anderen – wie du deine Schwester auf dem Pfad verlassen hast, wie du dich in der Dunklen Stadt durchgeschlagen hast – auch auf deine Narben – auf alles, was dich ausmacht, was dein Leben wirklich zu deinem Leben macht … das ist der Moment, in dem du hinaus in die Horde gehst und dich ihnen ergibst.«
»So leicht ist es nicht«, flüstere ich.
Er rückt von mir ab, gibt mir Raum. »Warum nicht?«
»Weil das nicht alles das Gleiche ist. Das sind völlig verschiedene Dinge … verschiedeneTeile von mir und meinerVergangenheit.«
Er zuckt mit den Schultern. »Genau. Es ist das, was dich ausmacht: Das bist du. Glaubst du nicht, dass du all das verlieren würdest, wenn du eine von den Ungeweihten werden würdest?«
Ich will den Kopf schütteln, doch er hält mein Kinn fest. »Die Ungeweihten sind nicht die Gewinner, weil sie gestorben sind«, sagt er. »Wir sind die Gewinner, weil wir leben dürfen.Weil wir überleben dürfen. Dieses Leben ist zwar schmerzlich, aber wir dürfen immerhin fühlen.«
Er lässt mich los und geht zum Rand des Daches, der Innere Bereich liegt dort unten in eine weiße Decke gehüllt. »Ich weiß, du gibst mir noch immer die Schuld dafür, uns hierhergebracht zu haben . A ber verstehst du denn nicht, dass ich uns nur die Chance geben wollte zu leben? Ich wollte weder dich noch Catcher verraten. Ich wollte nur …«
Er beißt die Zähne zusammen, und ich stelle mich neben ihn, schaue auf den Inneren Bereich hinunter und auf die Dunkle Stadt am anderen Ufer des Flusses.
Er holt tief Luft. »Wir haben so gekämpft … wir beide. Das durfte nicht umsonst gewesen sein. Ich musste für uns kämpfen – auch wenn das hieß, dass ich uns hierherbringen musste. Das war meine einzige Möglichkeit.«
Ich lege meine Hand auf seine. Seine Haut ist warm und feucht. Ich schaue auf und sehe, dass seineWangen gerötet sind.
»Vielleicht sollte mir das leidtun«, sagt er. »Ich werde mich nicht …« Er schüttelt den Kopf. Dann räuspert er sich und spricht weiter: »Ich werde mich nicht dafür entschuldigen, dass ich mehr Zeit mit Gabry haben wollte. Und mit dir.«
Er umklammert meine Finger. »Wir werden einenWeg finden«, sagt er. Das klingt so sicher, dass ich es nicht ertrage, ihm die Ausweglosigkeit unserer Lage vor Augen zu führen. Es ist leichter, ihm die Hoffnung zu lassen.
Ein Windstoß erfasst die Enden meines Schals, weht sie über meine Schultern und lässt sie hinter mir herflattern. »Wenn wir doch nur fliegen könnten«, flüstere ich.
»Ich bin mal geflogen«, sagt Elias. Sein Blick geht in die Ferne, seine Schultern heben und senken sich mit jedem Atemzug. »ImWald. Ich habe ein Flugzeug gefunden, mitten im Winter, alle Ungeweihten lagen in Starre, und da habe ich stundenlang darin gesessen. Unter mir dieWolken, darüber blauer Himmel.«
Er lässt meine Hand los, steht schwankend auf und hält sich an der Mauer fest, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren. Ich stütze ihn und merke, dass er glühend heiß ist. Schweiß läuft ihm den Nacken hinunter, obwohl die Luft eisig ist.
»Elias, du musst dich ausruhen. Du musst mich eineWeile übernehmen lassen. Du kannst nicht so weitermachen.« Ich will ihm dabei helfen, sich hinzusetzen, aber er taumelt zurück.
»Nein«, murmelt er und schaut sich auf dem Dach um, als wüsste er nicht mehr, was er hier eigentlich wollte. »Nein, ich muss mich um Gabry kümmern.« Schließlich schaut er mir in die Augen. Sein Gesicht ist blass. »Sie ist alles für mich.« Und dann bricht er zusammen.
34
I ch will Elias auffangen, doch mir gelingt es nur, seinen Fall zu dämpfen. Er sinkt an einer eisverkrusteten Schneewehe zu Boden. Ich schüttele ihn und rufe seinen Namen, einen Moment lang verdreht er die Augen, dann kann er endlich den Blick auf mich richten.
»Tut mir leid«, flüstert er.
»Was denn?« Ich versuche ihn aufzusetzen, streiche ihm übers Gesicht und
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