Die Stadt der tausend Schatten: Roman (German Edition)
spüre, wie sein Fieber in meine Haut sickert.
»Ich wollte dich lieben«, murmelt er. »Wirklich …« Seine Stimme verliert sich, ich bin schockstarr. »Versprich mir, dich um sie zu kümmern.«
»Elias!« Aber er reagiert nicht. Ich schüttele ihn wieder, doch nichts passiert. »Elias«, schreie ich, doch er liegt reglos da, mit leicht geöffneten Lippen. Seine Brust hebt und senkt sich schnell.
Ich kann ihn nicht wecken, das Eis unter ihm beginnt zu schmelzen und seine Kleider zu durchweichen. Panisch schaue ich mich um, dann laufe ich an den Rand des Daches.
»Catcher!«, schreie ich, auch wenn ich weiß, dass es sinnlos ist, dass er mich überhaupt nicht hören kann, dort, wo er ist. Unter mir bleiben ein paar R ekruter auf demWeg zu ihrem Dienst auf demWall zögernd stehen und schauen hoch. Ich ziehe mich aus ihrem Sichtfeld zurück, plötzlich will ich mich davor hüten, ihre Aufmerksamkeit zu erregen.
Ich laufe schnell wieder zurück zu Elias, will ihn hochheben, kann das tote Gewicht aber nicht stemmen und rutsche aus. »Elias, bitte«, flüstere ich ihm zu. »Bitte, bitte, bitte, wach auf.« Er stöhnt und rührt sich ein wenig, dann fängt er an zu würgen, ich kann ihn gerade noch rechtzeitig auf die Seite wälzen.
Verzweifelt wasche ich ihm den Mund mit Schnee aus, er will mich wegstoßen, wacht aber immer noch nicht auf. Er hört mich nicht. Wieder fängt er an zu würgen, er zittert und stöhnt. Ich wickele ihn in die Decke, die er mit nach oben gebracht hat, und für einen Moment hört er auf zu bibbern.
Hier kann er nicht bleiben. Ich versuche noch einmal, ihn zu heben, und es gelingt mir, ihn halb stolpernd, halb rutschend bis zumTreppenhaus zu schaffen. Ihn dieTreppen hinunterzubringen, erweist sich als nahezu unmöglich. Ich mache mich stark unter seiner Last und schleppe ihn von Stufe zu Stufe, viel mehr als ein gerade eben kontrolliertes Fallen ist es nicht.Wenn seine Ellenbogen aufs Geländer prallen, zucke ich zusammen, aber er merkt es kaum.
»Du schaffst das, Elias«, murmele ich auf jedem Absatz, hoffe, dass er mich hört, weiß aber, dass er wahrscheinlich so tief in seinen Fieberträumen steckt, dass meineWorte bedeutungslos sind. Doch ich spreche sie trotzdem aus, weil sie mich trösten und ich mich besser konzentrieren kann.
Als ich ihn endlich in unsereWohnung geschafft habe, breite ich ein paar Decken auf dem Boden aus und wickele ihn hinein. Er würgt wieder, aber sein Magen ist leer. So behutsam wie möglich streife ich ihm die gefrorenen Kleider ab, seine Haut hat eine eisig blassblaue Färbung angenommen.
Zitternd rollt er sich zusammen, ich häufe noch mehr Decken auf ihn und zerre ihn dichter an den Ofen heran. Im Moment scheint er sich gern vom Schlaf überwältigen zu lassen. Ich werfe mehr Holz aufs Feuer, stehe einfach nur da und starre auf meine Schwester und Elias.Was soll ich jetzt machen?
Wie soll ich sie am Leben halten?
In der Stadt hat es immer Krankheit gegeben.Vor einigen Jahren wütete die Grippe und dezimierte die Bevölkerung. Ich gehörte zu den Betroffenen, und Elias hat fast alles eingetauscht, was er hatte – Essensmarken, Decken, seine schönen Stiefel, Öl und eine Laterne –, um Kräuter zu beschaffen, die mein Fieber gesenkt haben. Später hat er mir erzählt, er habe eineWoche an meinem Bett gesessen, wenn er schlief, mit der Hand auf meiner Brust, um sicher zu sein, dass ich noch atmete.
Jetzt schaue ich mir seinen Körper an, dieWangenknochen zeichnen sich so scharf unter der Haut ab. Bei meiner Schwester ist es genauso, die Haut ist fahl, ihr Haar strähnig. Wie sollen die beiden so ein Fieber nur eineWoche überleben? Sie sind nicht kräftig genug.
Ich lasse mich in einen Sessel fallen und zähle mit, wie oft sich ihre Brust hebt und senkt. Ich beobachte ihre flackernden Lider und Lippen, dieWorte murmeln, die niemals verständlich werden. Das Stöhnen der Horde dringt durchs Fenster und hüllt uns alle ein – sie rufen nach mir.
Und ich kann nur eines denken:Was passiert, wenn ich sie nicht retten kann?Was, wenn ich ganz allein in diesem Gebäude bleibe, bis ich nicht länger überleben kann? Ich habe mir so viele Arten vorgestellt, auf die dieWelt zu Ende gehen würde, aber diese hier war nicht darunter.
Ich lege die Stirn auf die Knie und halte mir die Ohren zu. DieTränen lassen sich nicht länger zurückhalten, ich weine, von Angst geschüttelt.
Den ganzenTag habe ich damit zugebracht, auf Catcher zu warten und Elias und
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