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Die Stadt der tausend Schatten: Roman (German Edition)

Die Stadt der tausend Schatten: Roman (German Edition)

Titel: Die Stadt der tausend Schatten: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carrie Ryan
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meine Schwester zu überreden, matschigen Schnee zu trinken. Ich habe versucht, ihnen Brühe einzuflößen, die sie nicht bei sich behalten können. Ein paar Mal sind sie aufgewacht, doch schienen sie mich nicht zu erkennen.
    Meine Schwester ruft nach ihrer Mutter. »Mary«, stöhnt sie – und ich kann nur ihre Hand halten und ihr sagen, dass alles wieder gut wird … auch wenn ich mir da nicht sicher bin.
    Nach einerWeile ist es mir in derWohnung zu heiß, ein ekliger süßer Geruch vermischt sich mit dem nasserWolldecken, die am Feuer trocknen. Es ist kaum auszuhalten. Ich habe es geschafft, eine Matratze in den Raum zu schleifen und beide daraufzuhieven. Jetzt schlafen sie beide tief, sie hat ihren Arm unter seinen geschoben.
    Ich schleppe mich nach oben aufs Dach, die eisige Luft ist mir willkommen, sie erfrischt meine Lungen. Die Nacht ist so tief und so klar, der Mond ist noch nicht aufgegangen, um die verstreuten Sterne zu verbergen, die ihr Millionen Jahre altes Licht pulsieren lassen.
    Auf den Dächern der Stadt brennen weniger Feuer von Überlebenden. Ich will nicht darüber nachdenken, was das bedeutet, und zünde mein eigenes kleines Feuer an. Dann ziehe ich eineWanne mit Schnee heran. Während er schmilzt, streiche ich mit den Händen über dieWolldecken und Quilts, die ich zumWaschen hochgebracht habe, die meisten Säume sind ausgefranst, sie lösen sich in meinen Händen auf. Ich sitze einfach da, betrachte die Fetzen und frage mich, ob es sich wohl lohnt, sie zu einem neuen Quilt zu verarbeiten – ob das alles in ein paarTagen überhaupt noch eine R olle spielt.
    War es so in all diesen anderen Städten und Gemeinden, als die R ückkehr hereinbrach? Lagen überall die halb fertigen Produkte aus dem Leben der Menschen herum: die Wäsche, die noch auf der Leine hing, ein halb gelesenes Buch in der Ecke eines alten Sessels, ein unfertiger Brief oder ein Bild, das noch nicht ganz vollendet war?
    Meine Schwester hatte mich gefragt, was ich tun würde, wenn ich wüsste, dass dies das Ende war. Ich schließe die Augen und erinnere mich, wie Catchers Lippen sich auf meinen angefühlt haben. Ich denke an diesen Moment, in dem er nachgegeben und sich auf mich eingelassen hat.
    Den will ich wiederhaben. Immer noch einmal erleben. Das soll mein Leben sein.
    Ich starre auf das Bild von Catcher, das ich auf dieWand gemalt habe, das meiste haben Wind und Schnee ausgelöscht. Ein paar Elemente sind noch übrig – die Umrisse einer Blume, eine Hand, die eineTraube Ballons hält, die ineinander verlaufen sind.
    Ich hole einen verkohlten Stock aus dem Feuer und ziehe einige der verblassten Linien nach, ein Gesicht hier, einen Zaun da. Ich fange an, die Ballons nachzuzeichnen und gebe jedem einzelnen wieder Form, dann halte ich inne.
    Die Kohle am Ende meines Stocks bröselt unter dem Druck meiner Hand und hinterlässt eine lange dunkle Spur.Wenn wir doch fliegen könnten, denke ich.
    Das ist so dumm, dass es völlig ausgeschlossen ist, trotzdem gehe ich zurück zum Feuer und den Decken, die rund herum verstreut liegen. Ich lasse die Stoffe durch die Hände gleiten . A ls ich einen finde, der fest gewebt, aber nicht zu schwer ist, reiße ich die Nähte auseinander, bis ich ein Quadrat von passender Größe habe.
    Ich ziehe den Draht herunter, an dem wir unsere Wäsche aufgehängt haben, und wickele ihn zu einer Art Knäuel. Nachdem ich den Stoff am Drahtgestell befestigt habe, wiege ich ihn in der Hand, ein kleiner hohler Ballon mit einer Öffnung auf einer Seite.
    Schwieriger ist es herauszufinden, wie die heiße Luft in den Ballon gelangen und dort bleiben soll. Ich starre eine Zeitlang auf die verkohlten R este des Feuers und fertige schließlich aus dem restlichen Draht einen kleinen Korb, in den ich ein wenig Stoff stopfe. Darauf schichte ich ein paar Stücke Glut und Zweige. Das Ganze beginnt zu glimmen, der Rauch quillt in die Kuppel aus Stoff.
    Mit angehaltenem Atem warte ich. Zuerst geht es langsam, dann immer schneller, der Ballon steigt von meiner Hand auf. Die Brise, die vom Fluss her weht, erfasst ihn und trägt ihn durch den Nachthimmel, und ich juchze vor Aufregung.
    Der Ballon schwebt, ein heller Funke am Himmel … wie ein Stern. Eine Lichtexplosion in der Dunkelheit der Stadt. Dann erlischt die kleine Flamme, die ihn antreibt, und das ganze Gebilde taumelt ins Nichts.
    Zum ersten Mal seitWochen, seit Jahren, habe ich Hoffnung. Ich sammele die ungewaschenen Decken zusammen und trage sie wieder

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