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Die Stadt der tausend Schatten: Roman (German Edition)

Die Stadt der tausend Schatten: Roman (German Edition)

Titel: Die Stadt der tausend Schatten: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carrie Ryan
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hinunter in dieWohnung. Pläne, wie wir die Insel verlassen können, gehen mir im Kopf herum.

35
    M itten in der Nacht hört meine Schwester auf zu atmen. Ich packe ihre Schultern, schüttele sie, schreie sie an, sie dürfe nicht sterben, sie habe mir doch versprochen zu überleben . A ls ob sie meinem Befehl folgt, prustet, hustet und würgt sie, und ihre unregelmäßigen Atemzüge setzen wieder ein.
    Aber ich kann nicht mehr schlafen. Ich muss immer auf ihre Brust schauen und beobachten, wie sie sich hebt und senkt. Irgendwie fühle ich mich dafür verantwortlich, dass sie den nächsten Atemzug tut, ich fürchte, dass sie mir entgleitet, wenn ich den Blick auch nur für einen Moment abwende.
    Ich rücke meinen Sessel näher an die Matratze, Fetzen alter Kleider und Decken liegen am Boden verstreut. Mit dem Nähzeug meiner Schwester füge ich die Stoffstreifen zusammen, schließe die Nähte so fest ich kann, und meine Bewegungen passen sich dem Rhythmus ihrer Atemzüge an.
    Zum millionsten Mal wünsche ich mich an ihre Stelle. Nicht wegen der glatten Haut und des leichten Lebens, sondern weil ich solche Angst habe, sie im Stich zu lassen. Mir wäre es lieber, ich wäre die auf dem Bett, die sich langsam verabschiedet. Denn das würde bedeuten, dass meine Schwester noch an ihrem Leben festhalten könnte.
    Als der Morgen anbricht und Catcher immer noch nicht zurück ist, weiß ich, dass er keinen Fluchtweg gefunden hat. So bald wird er nicht zurückkommen.
    Ich weiß, was ich zu tun habe.
    Ich nehme die Machete und schärfe die Klinge so gut wie möglich. Dann sorge ich dafür, dass Elias und meine Schwester gut zugedeckt sind und lege mehr Holz im Ofen nach. Es dauert eineWeile, bis ich mich dazu zwingen kann, die beiden zu verlassen, aber am Ende ziehe ich los.
    Draußen ist ein strahlend hellerTag, der Himmel ist so grell, dass mir die Augen brennen. Unter meinen Füßen knirscht der Schnee, eine dünne Eisschicht bricht, und ich sinke insWeiche darunter. Bis ich am Hauptgebäude bin, sind meine Hosen bis zu den Knien feucht, und ich zittere, aber das ist mir egal.
    Drinnen hallen meine Schritte von kalten Wänden wider, mein Atem weht in kleinen Wölkchen vor mir her. Ich gehe am Kartenraum vorbei, bleibe kurz stehen, um nachzuschauen, ob sich etwas verändert hat, aber es sieht alles noch genauso aus wie bisher.
    Ich hatte damit gerechnet, dass es im Gebäude vor Leuten wimmeln würde oder zumindest ein bis zwei R ekruter durch die Gänge wandern, doch niemand ist hier. Nichts als eine unheimliche Stille, in der mein Herz viel zu laut zu schlagen scheint. Erst als ich tief im Inneren des Gebäudes um eine Ecke biege, begreife ich, wo alle sind.
    Ich höre die R ufe, das Stöhnen und jemanden, der am Käfiggitter rüttelt. Durch ein paar Fenster fälltTageslicht in den Flur, Schatten hängen in den Ritzen zwischenWand und Boden. Ich schließe die Augen und warte auf den Schrei, mit dem der Gehetzte sich ergibt. Lausche dem Betteln um Gnade. Ich packe die Machete fester und überlege, ob dasselbe wohl auch mit mir geschehen wird, wenn sie mich finden.Wenn ich sterbe, müssten sie Elias und meine Schwester retten, das weiß ich. Schließlich erinnern sie uns zu gern daran, dass sie nur einen von uns lebend brauchen, um Catcher zu binden.Wenn ich sterbe, bleibt ihnen nichts anderes übrig, als die anderen zu retten.
    So vorsichtig wie möglich ziehe ich mich zurück und beginne mit meiner Suche. Ich komme an kahlen Räumen vorbei, in denen es nichts als Staub oder manchmal einen alten Schreibtisch oder einen kaputten Stuhl gibt. Ich brauche ziemlich lange, und vor Nervosität fange ich an zu schwitzen, jedes Geräusch verunsichert mich und elektrisiert meine Sinne. Ich habe keine Ahnung, wie lange der Geopferte in seinem Käfig aushalten wird – und wie viel Zeit mir bleibt, bis jemand sich langweilt und zufällig über mich stolpert.
    Endlich finde ich einen Lagerraum mit durchhängenden R egalen voller Körbe mit Essen undVorräten aller Art. Ich nehme eine alte Laterne von der Tür und zünde sie an, dann stöbere ich herum. In einer Ecke stoße ich auf Beutel mit getrockneten Kräutern und Pflanzen. Ich schnuppere an einem nach dem anderen, schütte mir etwas vom Inhalt auf die Hand und versuche mich zu erinnern, womit man Fieber senkt. Schafgarbe? Blutwurz? Koriander? Ich kneife die Augen fest zusammen und versuche mir ins Gedächtnis zu rufen, was Elias für mich gekauft hatte, als ich krank war. Wie hatte es

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