Die Stadt der tausend Schatten: Roman (German Edition)
Stimme versagt. »Sie flehte mich an«, wiederholt er.
Er zittert am ganzen Körper und hat Mühe beim Atmen. Ich presse die Lippen auf seine Hand, sein Handgelenk, um ihn zu trösten. »Aber ich hatte nichts. Ich hätte erst für sie plündern müssen, aber ich wollte doch einenWeg finden, um euch von der Insel zu bringen.
Ich habe für die Suche länger gebraucht, als es eigentlich hätte dauern sollen, und als ich schließlich zurückkam …« Er macht sich von mir los und setzt sich auf die Bettkante. Ich drehe mich um und sehe, dass er den Kopf in den Händen hält und sich die Haare rauft. »Als ich zurückkam, war sie tot. Und der Junge …«
Ich lege ihm die Arme um die Schultern, halte ihn.
»Der Junge hat einfach da gesessen und an ihr gezogen und geweint, sie solle doch aufwachen. Er hat schluchzend an ihrem toten Körper gezerrt, und ich wusste nicht, was ich tun sollte. Sie waren allein in dem Gebäude gewesen. Ihre Brücke hatten sie schon zerstört, da war nichts mehr. Da war niemand in der Nähe, der ihnen helfen oder den Jungen nehmen konnte.«
Der Mond wirft scharfe Schatten auf sein Gesicht. Er steigt aus dem Bett und kniet sich vor mir hin, klammert sich an die Decken. »Ich wusste nicht, was ich tun sollte, Annah. Keine Ahnung. Ich habe ihm zu essen gegeben, aber er wollte nicht aufhören zu weinen, und ich wusste nicht, was ich mit ihm anfangen sollte . A llein lassen konnte ich ihn nicht. Nicht ohne seine Mutter.«
Er nimmt meine Hände, ist völlig verzweifelt. »Ich habe versucht ihn zu retten. Ich wollte ihn wegtragen, irgendwohin, wo andere sich um ihn kümmern konnten . A ber die Mudo …«
Und plötzlich weiß ich, was er sagen will, und mein Herz setzt für einen Schlag aus.
»Es war so kalt, ich dachte, sie wären langsamer. Ich dachte, ich würde es schaffen und könnte mit ihm hierherlaufen.«Tränen rinnen ihm übers Gesicht.
»Es ist schon so lange her, seit ich mit den Mudo zu schaffen hatte. Du musst verstehen, ich bin so daran gewöhnt, dass sie mich ignorieren, ich hatte vergessen …« Er schüttelt den Kopf. »Sie sind zu schnell auf mich losgegangen. Es waren zu viele für mich, ich konnte nicht flüchten. Ich wollte ihn schützen.«
Er zittert haltlos. »O Gott, er hat geschrien und geweint, und ich habe wirklich versucht, ihn zu beschützen.Was anderes habe ich doch nicht gewollt, ich habe versucht sein Leben zu retten, und sie haben ihn erwischt. Sie haben ihn erwischt.«
Schluchzend legt er den Kopf in meinen Schoß. »Ich hätte ihn nicht retten können, Annah. Wie soll ich dich und Elias und Gabry schützen, wenn ich dieses Kind nicht mal retten konnte?«
Ich beuge mich über ihn und drücke die Lippen auf seine Schläfen. »Es ist alles gut, Catcher, wir sind in Sicherheit«, lüge ich.
Er hebt den Kopf und schüttelt ihn langsam. »Und wenn du das nun gewesen wärst? Das war das Einzige, was ich denken konnte.Was, wenn du diejenige gewesen wärst, die ich getötet hätte?«
Er richtet sich auf, rückt aber nicht von mir ab, dann beugt er sich über mich.
Ich lehne mich nach hinten, will wegrücken, aber er legt mir die Hand in den Nacken, seine Fingerspitzen streichen über meinen Puls.
»Ich kann dich nicht verlieren, Annah. Ich werde dich nicht verlieren.«
Und dann spüre ich seine Lippen auf meinem Mund.
Zuerst fühle ich die Wärme. Die Hitze, die er ausstrahlt, als er den Mund leicht öffnet. Zwischen uns ist so etwas Drängendes, so ein Hunger, der aus dem Bedürfnis entspringt, einem anderen Menschen etwas zu bedeuten.
Seine andere Hand fährt glühend an meinem R ücken hinunter, zieht mich an sich, bis nichts mehr zwischen uns ist und nicht mal die Luft uns voneinander trennt.
Ich schmecke, wer er ist und war, und wir lassen uns aufs Bett fallen. Mit den Händen in seinem Haar ziehe ich ihn näher an mich heran – und noch näher. Wir atmen einander. In diesem Augenblick unterscheidet uns nichts, wir sind einVerlangen.
Er zieht sich zurück, und wir schnappen beide nach Luft. Noch immer an mich gedrückt wälzt er sich auf die Seite. Mit dem Daumen streicht er mir über dieWange, folgt den Konturen meines Gesichts.
Nicht meinen Narben, sondern allem anderen . A llem, was ganz ist.
Er zittert. Ich lege meine Hand auf seine. »Was ist denn?«
Er schaut mich an, schaut mich wirklich an. »Ich habe schreckliche Angst«, flüstert er. »Vor uns. Davor, dir wehzutun.«
Mit der Zunge fahre ich mir über die Lippen. »Ich habe furchtbare
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