Die Stadt der tausend Schatten: Roman (German Edition)
ihnen. Dieses Risiko will ich nicht eingehen . A uch wenn du sie anstoßen kannst, ohne dass sie …« Ich denke daran, wie er mitten in der Menge derToten stand wie einer von ihnen.
Er schaut mich einen Moment lang an; als ihm klar wird, was ich sagen will, runzelt er die Stirn.
Meine Muskeln verkrampfen sich vor Kälte. Um mich herum kräuselt sich dieWasseroberfläche, als ich von einem Bein aufs andere trete, um mein Blut im Fluss zu halten.
»Tragen kann ich dich nicht so einfach … mit meinem Arm«, sagt er. »Du könntest dich treiben lassen, aber bei dieser Kälte … und dein Haar ist so lang …«
Mich schaudert bei dem Gedanken, dass sich die Hände von Ungeweihten in mein Haar krallen und mich in die Tiefe ziehen könnten, um sich dort an mir zu weiden.
Catcher watet näher heran, seine Bewegungen machenWellen, die mir um die Hüften schlagen. Er dreht sich um, beugt sich ein wenig vor und zeigt auf seinen R ücken. »Kannst du raufklettern?«
Einen Moment lang starre ich auf das Hemd, das sich über seiner Haut spannt. Es ist mir zuwider, dass ich so auf seine Hilfe angewiesen bin, aber ich bin nicht so dumm, sein Angebot abzulehnen.Wenn ich mich auf ihn verlasse, habe ich die größten Chancen, durchsWasser zu kommen.
Ich gehe ein wenig in die Knie, hole Schwung, werde aber von der Nässe so beschwert, dass ich Mühe habe, mich an seinen Schultern festzuhalten und die Beine um ihn zu schlingen.
Er gerät kurz aus dem Gleichgewicht, dann schiebt er die Hand unter meinen Schenkel und bringt mich auf seinem R ücken in die günstigste Position. Ich schmiege mich an ihn, lege den Kopf zwischen seine Schulterblätter, und ein Schauer durchläuft mich. Sein Körper ist so warm.
Ich seufze, lege ihm den Arm über die Schulter und ziehe mich dichter an ihn heran. Er riecht immer noch nach derWelt draußen, nachWald. Er pflügt durch die Dunkelheit, und sein Körper wiegt sich hin und her. Ich schlinge die Beine noch fester um ihn, meine Füße berühren sich vor seinem Bauch.
»Geht das so?«, flüstere ich ihm ins Ohr. Ich spüre, wie seine Nackenhaare sich aufstellen. Er grunzt eine Antwort und geht weiter, das Plätschern hallt um uns herum.
Ich fühle, wie seine Muskeln arbeiten, den Pulsschlag unter seiner Haut. Er lässt den Arm auf meinem Knie ruhen, dieWunde ist fest verbunden und das Blut weggewaschen. Jedes Detail muss ich genau in mich aufnehmen. Ob er wohl merkt, dass seine Finger den schmalen Streifen Haut zwischen dem Saum meiner Hose und dem Sockenbund berühren? Sie trommeln ganz leicht auf meine Haut, wieWassertropfen.
Ich sollte etwas sagen. Die Stille ist zu vertraulich. Ich bin es nicht gewohnt, Leute zu berühren . A ber was ich auch sagen würde, es wäre entweder zu belanglos oder zu persönlich. Und deshalb lasse ich meinen Kopf an seinem Schulterblatt ruhen und schmiege mich an ihn, während er durchsWasser pflügt.
Ich schließe die Augen und stelle mir die Sonne vor, ein Feld voller Blumen – und kein anderes Geräusch alsVogelgezwitscher und das Summen von Insekten. KeinTod. Kein R ennen undVerstecken. Keine Angst. Und dann stelle ich mir Catcher an meiner Seite vor, seine Berührung, die von den Knöcheln zu meinem Knie hochwandert.
Ich schnappe nach Luft, erschrocken über die Richtung, die meine Gedanken genommen haben. Die R öte schießt mir ins Gesicht. Ich bin froh, dass Catcher mich nicht sehen kann.
Er packt mich fester. »Hör auf zu zappeln«, sagt er, und das beschämt mich nur noch mehr. »Es wird flacher«, fügt er hinzu, als er aus demWasser auf den höher und trockener gelegenen nächsten Bahnsteig stolpert.
Er lässt mich los, als ihm dasWasser nur noch bis zum Knie geht. Dann husche ich auf den Bahnsteig zu und ziehe mich an der Kante hoch. Die ganze Zeit über wende ich ihm den R ücken zu, damit er nicht sieht, wie rot ich geworden bin.
Plötzlich komme ich mir komisch vor. So als hätte ich zu dem, was gerade passiert ist, etwas sagen sollen, aber ich bin es nicht gewohnt, mit Leuten zu reden, also bringe ich nichts weiter als ein »Danke« zustande.
Aus dem Augenwinkel beobachte ich, wie er das Gesicht verzieht, als er sich mit seinem verletzten Arm auf die Bahnsteigkante stemmt. »Was tun wir nicht alles, um zu überleben«, erwidert er und richtet sich auf.
Ich möchte, dass er mehr sagt und die Intimität der letzten Augenblicke irgendwie bestätigt. Dumm von mir. Ich weiß ja, wie recht er hat: Wir tun, was nötig ist, um zu überleben.
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