Die Stadt der tausend Schatten: Roman (German Edition)
nicht hinzuschauen, und unmöglich, den Kampf nicht zu beobachten, der sich so vieleTreppen unter uns abspielt. Ich versuche mich auf Elias’ R ücken zu konzentrieren und auf Catchers Hitze hinter mir, aber der Lärm und der Geruch sind einfach zu viel für mich – dieser metallische Geschmack im Mund … und die Schreie der Lebenden.
Ich werde angerempelt und falle hin, jemand tritt mir auf die Hand, sein Gewicht zermalmt mir die Knöchel. Ich schreie und schlage um mich. Ein Dritter packt mich, zuerst denke ich, er will mir aufhelfen, aber er hat es nur auf die Machete an meinem Gürtel abgesehen.
Ich winde mich aus dem Griff des Mannes; Catcher schlägt auf ihn ein, rammt ihm ohne zu zögern die Faust ins Gesicht. Der Mann taumelt zurück, und Catcher zieht mich hoch, dann laufen wir weiter, hinein in die Menge.
An manchen Stellen stehen Kinder reglos da und wimmern nach Müttern, die sie nicht finden können . A n anderen schauen Männer von den Dächern herunter auf die Neverlands, sie können gar nicht glauben, was da kommt, können nicht begreifen, dass es so vieleTote geben kann.
Es ist, als wären wir in die Sintflut geraten, wir folgen der Menge nach Osten. Die Gebäude ringsum werden immer höher, von manchen sind nur noch rostige Hüllen übrig . A lte Stahlstreben ragen über uns auf, zerklüftet und mit scharfen, zackigen Kanten.
Auf halbemWeg über die Insel schlängeln sich die Brücken willkürlich um Hindernisse herum, man muss erst ein paar Straßenzüge nach Süden laufen, bevor es wieder nach Osten geht. Fast alle Flüchtenden halten auf die Docks weiter südlich zu, aber der Innere Bereich ist auf einer Insel unmittelbar östlich von der Dunklen Stadt gelegen, was bedeutet, wir müssen den Strom überqueren, wenn wir diese Richtung einschlagen wollen. Das ist unmöglich. Leute schreien uns an, ein Mann schlägt sogar auf Elias ein, dann geben wir auf und klettern über eine Feuerleiter zur Straße hinunter. Hier unten kommt man schneller voran, die Angst hat die Massen nach oben getrieben.
Ein paar Straßen weiter höre ich das schwere Schlurfen von Ungeweihten. Es sind so viele, dass der Boden erzittert, ihr misstönendes Stöhnen lässt die Luft vibrieren. Es ist lauter als der heftigste Gewitterschauer, eine zischende und tosende Masse von Leibern und Gier.
Elias will loslaufen, aber er hat eindeutig Schmerzen, seine Schritte haben etwasTorkelndes. Ich biete an, ihn zu stützen, aber er lehnt ab. Obwohl es kalt ist, besonders in den Schatten der uns überragenden Gebäude, läuft ihm der Schweiß übers Gesicht und bildet dunkle Flecken auf dem R ücken seiner Uniform.
Es sind zwar weniger Leute auf der Straße, doch dasVorankommen wird nicht leichter, manche laufen in dieselbe Richtung wie wir, andere in die entgegengesetzte, zu den Docks weiter südlich. Jedes Gesicht ist angespannt. Ich bemerke, dass von oben ängstliche Augen hinter zerrissenen Gardinen auf uns herabschauen. Manche wollen bleiben und kämpfen, sie gehen lieber das Risiko ein, in der Stadt zu bleiben, als das wegzurennen wie wir anderen.
Zum Inneren Bereich gibt es nur einen Zugang, eine alte Seilbahn, und je weiter wir uns der Station nähern, desto voller werden die Straßen, desto verzweifelter wird um Hilfe geschrien.
Unten an der Seilbahnstation ist das Getümmel am dichtesten. Leute brüllen und drängeln zu denToren, die den Zugang zum Bahnsteig und der Bahn selbst versperren. R ekruter haben sich an den Zäunen links und rechts von denToren aufgestellt, von dort schießen sie wahllos Bolzen ab oder schlagen mit bedrohlich aussehenden Klingen auf jeden ein, der zu nahe herankommt.
Spannung liegt in der Luft und der Geruch nach Blut und Leibern. Leute schütteln die Fäuste, verlangen schreiend Zugang zum Inneren Bereich oder fordern die R ekruter auf, die Flut der durch die Straßen kriechendenToten aufzuhalten.
Elias schlüpft durch die Lücken in der Menge, und ich folge ihm, indem ich mich zwischen den Leibern hindurchdränge. Ich will nicht daran denken, dass sie bald alle tot sein und sich wandeln werden. Sie werden Hüllen sein von dem, was sie jetzt sind – mit demselben wildenVerlangen, nur finsterer. Doch ich frage mich, wie fein der Unterschied zwischen den Lebenden und denToten in diesem Gewimmel sein mag – und wie schnell sie zum Töten bereit sein werden, wenn es um ihre Chance zu überleben geht.
Catcher folgt mir durch die Menge, seine Fingerspitzen berühren leicht meinen R ücken,
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