Die Stadt der tausend Schatten: Roman (German Edition)
Diese unerwartete Bemerkung widert mich an.
»Es ist grauenhaft«, zische ich. »All diese Menschen … sie haben fürchterliche Angst. Sie können nirgendwo hin.«
Er streckt die Hand aus und hebt mein Kinn hoch, bis ich nicht mehr auf dieVerzweiflung unten in den Straßen schaue, sondern über die Häuser blicke. Stark stehen sie noch immer da, wie Soldaten, die gegen den Wind marschieren und willens sind, weiteren Stürmen zu trotzen.
Ich befreie mich aus seinem Griff und bohre mir die Fingernägel in die Handflächen, um das Gewirr meiner Gedanken in den Griff zu bekommen. Die Dunkle Stadt ist eindrucksvoll, aber schön würde ich sie nicht nennen, nicht mit so vielTod in ihren Mauern.
»Manchmal frage ich mich, wie es früher wohl gewesen ist, als nachts alles erleuchtet war«, sagt er. Ich werfe ihm einen erstaunten Blick aus den Augenwinkeln zu. Das habe ich mich auch immer gefragt, und ich wollte auch immer wissen, wie die Leute damals irgendwas im Leben haben schaffen können, wenn sie immer von so viel Farben und Licht umgeben waren.
Ich merke, dass er jetzt nicht mehr die Dunkle Stadt anschaut, sondern mich, und ich sehe ihn mit zusammengekniffenen Augen an. Er soll wissen, dass ich jemand bin, der überlebt, obwohl mir der halbe Körper aufgerissen wurde. Er soll nicht denken, dass er mir Angst macht.
»Jetzt sieht alles so grau aus«, fährt er fort, ohne die Aufmerksamkeit von mir abzuwenden. »Findest du nicht?Trüber. So als ob es noch etwas mehr brauchen würde. Jemanden, der die Schönheit sehen kann, zumindest die einstige.«
Ich betrachte die Skyline. R eihen um R eihen von Gebäuden, mal hohe, mal niedrigere, dazwischen die Schluchten, die sich mit Ungeweihten füllen. Ich denke an die Art, wie wir unser Dasein fristen, jederTag ein Kampf darum, den nächsten noch zu erleben.
Wie sinnlos sich das manchmal anfühlt.
»Was macht ihr mit meinem Bruder Elias?«, frage ich schließlich. »Was wollt ihr von uns?«
Sein Mund zuckt. »Du bist doch nicht wirklich seine Schwester, oder?«
Ich weiß, er wartet auf eine R eaktion, die ich ihm aber nicht zeigen will.Trotzdem zucke ich ein bisschen zusammen. Es ist beunruhigend, wenn so viele Fremde dieWahrheit über mich und Elias wissen. Wir spielen schon so lange Bruder und Schwester.
Er verschränkt die Hände hinter seinem R ücken, das Abbild eines Befehlshabers. »Die Sache ist die, ich weiß eine Menge über dich, Annah. Und über Elias weiß ich auch viel.«
»Es gibt keinen Grund, irgendetwas über mich zu wissen«, sage ich und rücke von ihm ab.
Doch er packt mich am Arm. Ich will mich losreißen, aber erst, als ich mich nicht mehr wehre, lockert er seinen Griff. »Ich weiß, dass meine Männer Elias, Gabry und den Immunen durch denWald verfolgt haben. Ich weiß, dass Elias sich geopfert hat, damit deine Schwester und der Immune entkommen konnten.«
Ich entreiße ihm meinen Arm. »Er heißt Catcher«, zische ich.
Ox lacht laut. Ich starre ihn finster an. »Mehr hast du dazu nicht zu sagen?« Er wischt sich die Lachtränen aus den Augen. »Weißt du, woher ich weiß, dass Elias nicht dein Bruder ist?Weil Gabry dann nämlich auch seine Schwester wäre, und das wäre doch ziemlich krank, weil er verliebt in sie ist.«
Mir schnürt sich der Hals zu.
Natürlich habe ich gewusst, dass sie ihm etwas bedeutet. Das war offensichtlich nach seinem Gewaltausbruch in unsererWohnung, nachdem er erfahren hatte, dass die R ekruter sie festgenommen hatten . A ber ich hatte mir nicht eingestehen wollen, dass es Liebe war. Den Gedanken hatte ich nicht mal aufkommen lassen.
Eigentlich sollte es keine R olle spielen, dass er sie liebt. Er hat mich vor drei Jahren verlassen. Das allein hätte mich zu der Einsicht bringen müssen, dass er mich nicht liebte und nie lieben würde.
Aber ich hatte gehofft. Ich schließe die Augen und zwinge mich, die Schultern nicht hängen zu lassen. Es ist eine Sache, die Wahrheit mit dem Kopf zu wissen, aber eine ganz andere, sie mit dem Herzen zu verstehen. Elias würde nie mir gehören, ich würde ihn nicht lieben können und er mich nicht. Gewusst habe ich es. Doch mein Herz hat es nie glauben wollen.
Ich denke daran, wie ich Abigail auf der Brücke gesehen habe … ihr sauberes Haar und die glatte Haut. Natürlich war sie es, die er liebte: meine Schwester. Mein Zwilling. Das Mädchen, das in jederWeise so ist wie ich, nur ist sie weich, wo ich hart bin, heiß, wo ich kalt bin – und schön, während ich
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