Die Stadt der tausend Schatten: Roman (German Edition)
Nadeln gespickt sind, deren metallene Schäfte im Licht glitzern.
Es ist hinreißend, wunderschön und überwältigend – alles auf einmal.
15
O x bleibt auf der anderen Seite des Raumes, weit weg von mir. Das fasse ich als Erlaubnis zum Erkunden auf. Ich streiche mit den Fingern über die Nadeln und bin fasziniert von dem, was ich hier sehe: Länder, von denen ich noch nie gehört habe, und kreuz und quer verlaufende Linien, die an manchen Stellen weggekratzt sind.
»Was ist das hier?« Ich gehe zur nächsten Karte, schaue mir die geschwungene Küstenlinie irgendeines Meeres genau an, die Nadeln ragen daraus hervor wie kleine Bäume aus Metall.
»Die Kommandozentrale«, sagt er. »Hat unter der Kontrolle des Protektorats gestanden. Die R ekruter wussten nicht mal was davon, bis wir den Inneren Bereich übernommen haben.« Er lehnt sich gegen einen Tisch, den einen Fuß über dem anderen. Eigentlich wirkt er ganz locker, aber an seiner Haltung, an den angespannten Schultern, erkenne ich, dass er nur vorgibt, so ruhig zu sein. Er tut nur so, als würde es ihn gar nicht stören, dass ich da bin.
Ich gehe einmal im Kreis herum und schaue mir jedeWand an. DieWelt ist vor mir ausgebreitet, damit meine Augen reisen können . A m Ende stehe ich dann vor einem vergrößerten Ausschnitt der Karte, die die Dunkle Stadt zeigt, die Flüsse um sie herum und das Land, das sich dahinter erstreckt . A uf dem Festland sind nachWesten und Süden hin riesige öde Bereiche, die von einer dicken schwarzen Linie begrenzt sind. Ich fahre mit dem Finger daran entlang.
»Das ist derWaldrand«, sagt er ruhig, anscheinend weiß er nicht, welche Bedeutung das für mich hat. Ich mache mir nicht die Mühe, ihn aufzuklären.
Er sucht auf einem Tisch herum und nimmt sich ein kleines Glas mit Nadeln, aus dem er eine Handvoll herausschüttet. Sie haben bunte Köpfe, rot und grün, gelb und blau.
»Das Protektorat hat viel Zeit darauf verwendet, Kundschafter durch dieWelt zu schicken und herauszufinden, wo noch Leben war, und hier haben sie all diese Informationen aufbewahrt. Bei unserer Übernahme haben wir ihre Aufzeichnungen gefunden.« In dem schlechten Licht kann ich seinen Gesichtsausdruck nicht deuten. Ist er traurig? R esigniert? Wütend?
»Es gibt einen Schlüssel zur Karte.« Er sucht zwischen den Nadeln herum und hält eine mit grünem Kopf hoch. »Grün bedeutet: unter Kontrolle des Protektorats. R ot heißt: angesteckt; blau bedeutet: Kontakt ist abgebrochen, Status unbekannt.«
Ox lässt die bunten Nadeln wieder ins Glas zurückrieseln, einige fallen zu Boden und verteilen sich über den fleckigen Beton.
Wie alle anderen habe ich gewusst, dass das Protektorat R ekruter ausgeschickt hat, um die Horden zu bekämpfen und Land zurückzugewinnen . A ber ich hatte keine Ahnung, dass sie so viele Informationen über die ganzeWelt gesammelt hatten. Ich komme mir vor wie eineVerhungernde, vor der man ein Büfett aufgebaut hat . A ls ich mich wieder zur Karte umdrehen und mir alles noch mal anschauen will, packt Ox mich am Arm.
Zum ersten Mal fällt mir auf, wie ausgemergelt sein Gesicht ist und wie dunkel die Ringe unter seinen Augen. »Das musst du wissen, Annah.« Er dreht mich mit festem Griff, bis ich wieder vor der Karte stehe.
»Eine schwarze Nadel bedeutet, dass da nichts ist . A lles vonToten überlaufen.Weg. Und man hat nie wieder was gehört.«
Ich schaue auf dieWand, mein Blick wandert von einer Nadel zur anderen. Fast alle sind schwarz. »Das kann nicht stimmen«, sage ich. Das ganze Land, die ganzeWelt, sind von schwarzen Nadeln übersät.
Ox lässt die Arme hängen, er entfernt sich ein paar Schritte von mir, jede Geste ein klarer Beweis seiner Erschöpfung. Er weiß, was das bedeutet – was es bedeutet hat. Und das ist es, was ihn vom Schlafen und Essen abhält.
Der größteTeil derWelt ist weg, heißt es nämlich.
Ich habe Mühe zu fokussieren; auf der Suche nach Beweisen dafür, dass ich mich irgendwie irren könnte, trete ich näher an die Karte heran. Es kann doch nicht alles weg sein. Mein Blick schweift über die Wände, von Nadel zu Nadel, will Farbe finden in der schwarzen Leere. Und dann sehe ich es: eine winzige grüne Nadel an der Küste, südlich der Dunklen Stadt, auf einer Halbinsel, die aus demWald heraus ins Meer ragt. Ich strecke den Finger aus, zögere dann jedoch und lasse schließlich die Hand sinken.
»Was ist los?«, frage ich. »Was ist das?« Meine Stimme ist unsicher, mein ganzer
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