Die Stadt der tausend Schatten: Roman (German Edition)
Angst ihr der Ungeweihte macht.
Ich möchte mich schon umdrehen und sie beruhigen, aber ich tue es nicht. Ich bin es nicht gewohnt, dass Menschen meine Grenzen überschreiten. Normalerweise schlage ich um mich und vertreibe sie . A ber mit ihr kann ich das nicht machen. Und ich bin noch nicht bereit, ihr meine Narben zu zeigen – und meineVerbitterung, die mich nur noch kleinlicher und schrecklicher dastehen lässt.
Ihr Schatten wird auf dieWand geworfen, ich beobachte, wie ihre Hand zu meinem R ücken geht, eine Zeit lang über meiner Schulter schwebt und dann nach unten fällt.
»Annah?« Ein Flüstern. In ihrer Stimme ist nichts Böses oder Urteilendes, und ich fühle mich umso egoistischer und kälter.
Ich schließe die Augen. Sie war einmal meine andere Hälfte, aber jetzt erinnert sie mich nur an meine schlimmsten Seiten, und ich bin zu zerknirscht vor Scham, um ihr ins Gesicht zu sehen. Ich habe sie imWald allein gelassen. Ich habe ihr Schwäche vorgeworfen, statt mir Egoismus – und das macht alles noch schlimmer.
»Annah«, sagt sie mit etwas festerer Stimme. »Ich … ich bin es.« Sie holt Luft. »Deine Schwester.«
Als ob ich sie nicht erkennen würde.
»Bitte, Annah, bitte sieh mich an.«
Der Ungeweihte stöhnt und greift nach uns, die Ketten an seinen Handgelenken rasseln gegen die Stahlspeichen des Rades, in dem er gefangen ist. Die Lampen flackern, gehen aus und erwachen wieder zum Leben, als er einen Satz nach vorn macht.
Ich wünschte, er würde aufhören. Ich wünschte, alles würde aufhören.Wenn dieToten doch einfach aufgeben könnten, wenn sie sich doch umdrehen, zurück in ihre Häuser gehen und uns einfach in R uhe lassen würden. Dann könnte ich hier in der Dunkelheit kauern und müsste meiner Schwester nie in die Augen schauen, müsste nie ihre R eaktion erleben, wenn sie mein Gesicht sieht.
Ich will ihren Namen schon sagen, aber ich erstarre, plötzlich weiß ich nicht, wie ich sie nennen soll. Gabry fühlt sich nicht richtig an, für mich ist sie immer Abigail gewesen. »Ich weiß nicht, wie ich dich nennen soll«, flüstere ich verlegen.
»Sag Schwester zu mir«, antwortet sie, und dann höre ich, wie ein Lächeln über ihr Gesicht geht. »Große Schwester.«
Da muss ich einfach lachen, denn eine verborgene Erinnerung kommt wieder zumVorschein. Ich hatte vergessen, dass sie sich immer damit gebrüstet hatte, älter als ich zu sein, obwohl es sich um nicht mehr als ein paar Minuten handeln konnte.
Sie lacht auch, und ich schlage die Hände vors Gesicht, als mein Lachen inWeinen umschlägt . A ll die Schuld, die Scham und dieWut sind einfach zu viel für mich.
Sie zögert nicht und zieht mich an sich, drückt meinen Kopf an ihre Schulter und legt den Arm um mich. Ich schlinge meine Arme um sie – und alles ist wie früher.
Wir passen immer noch zusammen, zwei gespiegelte Hälften.
Ich schließe die Augen, überwältigt von Freude und Schmerz, und versuche mein Schluchzen unter Kontrolle zu bekommen, aber ich merke, dass sie auch zittert. IhreTränen benetzen meine Haut.
Schließlich macht sie sich los, aber wir halten uns immer noch bei den Händen. Sie starrt auf meine Finger und streicht mit dem Daumen über meine Narben.Vollkommen reglos halte ich den Atem an und warte darauf, dass sie etwas sagt. Dann schaut sie zu mir auf, ihr Blick folgt den feinen Rissen auf meinem Gesicht. »Elias hat nie erwähnt …« Sie beendet den Satz nicht, ich schaue auf unsere Hände. Wie glatt und makellos ihre Haut ist.
Es ist seltsam, sie Elias’ Namen sagen zu hören, sich vorzustellen, wie sie über mich gesprochen haben. So lange hat es sich angefühlt, als würde er nur mir gehören. In mir brennt das glühendeVerlangen, wissen zu wollen, was sie gesagt haben. Was mag Elias über mich gesagt haben?
Ich will wissen, warum er meine Narben nicht erwähnt hat. Ist er etwa so sehr an sie gewöhnt, dass er sie nicht mehr wahrnimmt? Oder schämt er sich? Plötzlich bin ich mir jeder Narbe bewusst, die sich über mein Gesicht zieht, am Hals entlang, über Arme, Hüften und Schenkel, um Knie und Knöchel herum.
»Was ist passiert?«, fragt sie leise. Diese Frage ist mir schon so oft gestellt worden, und ich habe sie immer abgetan . A ber bei meiner Schwester höre ich das Entsetzen in der Stimme nicht, sondern nur dieTraurigkeit darüber, dass ihrem Zwilling etwas so Schmerzhaftes zugestoßen ist.
Ich schlucke ein paar Mal. Ich bin es nicht gewohnt, dass jemand anderes als Elias sich
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