Die Stadt der tausend Schatten: Roman (German Edition)
weiterspreche. »Wie hat er sich verändert? Wie war er früher?« Es ist kalt in der Dunkelheit, ich verschränke die Arme vor der Brust.
Meine Schwester presst den Finger an das Metallrad, in dem der Ungeweihte steckt, die Felge dreht sich unter ihrem Fleisch. »Früher war er glücklich.« Das sagt sie mit solcher Endgültigkeit, als hätte dieses Glück nur in derVergangenheit existiert und wäre jetzt für immer verloren.
Ich runzele die Stirn. Das zu hören, macht mich traurig – mehr als traurig: wütend. Plötzlich geht mir auf, wie wichtig sein Glück mir ist – und das bringt mich aus dem Gleichgewicht. »Und du glaubst nicht, dass er wieder glücklich werden könnte?«
Sie drückt die Hand fester gegen das Metallrad und bringt es so zum Stehen. Die Lichter ringsherum werden matter. Ich will ihren Arm packen und sie wegziehen, aber sie wirkt so konzentriert, dass ich mich nicht von der Stelle rühre.
»Ich weiß nicht, ob das überhaupt für irgendwen möglich ist«, sagt sie schließlich. »Jetzt nicht mehr.«
Ich lache auf. »Eben habe ich dich mit Elias gesehen. Du kannst mir nicht erzählen, dass das kein Glück ist.«
Der Ungeweihte stöhnt und greift nach meiner Schwester, die Ketten, die ihn im Rad halten, rasseln. Ich kann beinahe riechen, wie das Metall ihr die Handfläche versengt, und will gerade den Arm nach ihr ausstrecken, als sie loslässt. Mit einem R uck setzt sich das Rad wieder in Bewegung, der Ungeweihte stolpert und stürzt.
Die Lampen gehen aus, einen Augenblick lang werden wir in tiefe Dunkelheit getaucht. »Ich bin diejenige, die die Horde geweckt hat«, sagt meine Schwester leise. Sie holt tief Luft, und ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll …
Das Rad fängt wieder an sich zu drehen, der Ungeweihte hat Halt gefunden. Ein Keuchen und Knarren ist zu hören, ehe die Lichter mit einem leisen Summen wieder angehen. Meine Schwester hält sich die Hand, die Handfläche ist rot und glatt. Sie wendet sich zu mir um, ihre Augen wirken hohl bei der schwachen Beleuchtung. »Es ist meine Schuld, dass sie in die Stadt kommen. Ich habe sie hergebracht. Meinetwegen ist die ganze Insel auf der anderen Seite des Flusses weg.Tot.«
Das ergibt keinen Sinn. Ich schüttele den Kopf und wünschte, ich wüsste etwas zu sagen, aber ich kann den Blick nicht von ihrer roten Handfläche lösen.
Sie scheint ein Geständnis ablegen zu müssen. »Catcher und ich haben versucht zu fliehen, und wir haben eine Brücke überquert, und die Horde war imTal und mein Blut …« Sie hält inne und schluckt, dann dreht sie sich zu dem Ungeweihten um und sagt: »Wenn ich nicht da gewesen wäre, wenn wir nicht geflohen wären, dann hätten sie uns nicht verfolgen können.«
Im Geiste sehe ich die Brücke vor mir, von der sie redet. Ich weiß noch, wie ich sie im Gewitter mit Elias überquert habe, die Leichen hatten so tief unten am Boden verstreut gelegen. »Es spielt keine R olle«, antworte ich schließlich.Wenn ich doch etwas Besseres erwidern könnte, etwas, das sie hören möchte. »Irgendwann wären sie sowieso gekommen.«
»All diese Menschen.« Ihr Gesicht ist weiß, die Lippen farblos. »Meinetwegen sterben sie alle.« Sie schaut mich an, beinahe verzweifelt. »Wie kann ich mich freuen, endlich wieder mit Elias zusammen zu sein, wenn ich so viele Menschen umgebracht habe?«
Ich schaue den toten Mann an, der immer weitergehen wird. So lange es Lebende gibt, die er wahrnimmt, wird er sie packen wollen. Die Ungeweihten drängen immer weiter und treiben uns in die kleinsten Orte, die es auf derWelt noch gibt.
Meine Schwester zittert,Tränen laufen ihr über die glattenWangen. »Wir sterben alle«, flüstere ich. »Ob die Ungeweihten nun in dieserWelt sind oder nicht – wir sterben trotzdem.«
Sie schaut zu Boden, im flackernden Licht glitzern und funkeln dieTränen auf ihrer Haut.
Vorsichtig strecke ich die Hand aus und greife nach ihren Fingerspitzen.Was musste ich doch alles tun, um diesen Augenblick zu erleben. Ich denke daran zurück, wie unendlich mühsam es war, herauszufinden, wie ich allein in der Dunklen Stadt leben konnte – ohne Elias. Und daran, wie ich mich entschlossen habe zu kämpfen, statt mich von all dem, was mir Angst gemacht hat, in die Knie zwingen zu lassen.
»Es ist nur das wichtig, was wir mit dem Leben anfangen, das wir haben«, sage ich. »Wir können unsereTage nicht in Angst zubringen.«
»Und was wird, wenn die Mudo den Inneren Bereich einnehmen?«
»Dann
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