Die Stadt der tausend Schatten: Roman (German Edition)
so um mich besorgt zeigt, und weiß nicht recht, wie ich damit umgehen soll.
Und dann erzähle ich ihr von Elias und mir.Wo wir hingegangen sind, nachdem wie sie auf dem Pfad haben sitzen lassen, wie wir uns verirrt haben und denWeg zurück ins Dorf nicht wiederfanden, aber schließlich denWeg aus demWald heraus zur Dunklen Stadt entdeckten. Wie ich in Stacheldraht gefallen bin, als ich in denTunneln nach Gegenständen aus der Zeit vor der R ückkehr gesucht habe, und wie Elias mir verboten hat, je wieder dort hinunterzugehen.
Aber ich erzähle ihr nicht, warum er mich verlassen hat. Ich erwähne die Nacht nicht, in der er mir das Gefühl gegeben hat, so schön und gleichzeitig so hässlich zu sein. Würde ich dieseWorte aussprechen, würden sie jemand anderem als mir gehören. Ich würde sie loslassen und könnte sie niemals zurückbekommen.
Die Augen meiner Schwester glänzen, während ich rede, und manchmal kann sie dieTränen nicht zurückhalten . A ls ich fertig bin, sagt sie nach einerWeile: »Das tut mir so leid. Es ist alles meine Schuld.Wenn ich nicht solche Angst gehabt hätte …« Sie fängt wieder an zu weinen, und ich ziehe sie an mich.
»Wir waren Kinder«, antworte ich. »Wir waren gerade mal fünf.« Aber ich will nicht ihr die Absolution erteilen, sondern mir. Denn ich bin diejenige, die sie sitzen gelassen hat. Sie hätte sterben können. Sie schüttelt den Kopf und rückt näher an mich heran. »Es war meine Schuld, Annah. Ich habe das alles vergessen. Ich bin so lange gelaufen, dass ich schon fast tot war, und habe es vergessen. Ich bin ohne Erinnerung an diese Geschichte aufgewachsen – habe nie etwas davon gewusst. Und wenn mal ein Funken der Erinnerung aufflackerte, hat meine Mutter, Mary, gesagt, das müsse einTraum gewesen sein. Ich hatte keine Ahnung, bis ich Elias getroffen habe. So viel Zeit ist vergangen – und ich habe es nicht gewusst.«
»Schon gut«, sage ich. Ich probiere dieseWorte aus, um nachzufühlen, ob sie wahr sind. Dann mache ich einen Schritt zurück und lege die Hände auf ihreWangen. Ich schaue ihr ins Gesicht. So würde meins aussehen, wenn ich nicht so viele Narben hätte. Immer wieder muss ich mich fragen, wie es wohl für Elias gewesen sein mag, als er sie das erste Mal sah.
Ob er dachte, dass er mich vor sich hatte? Und war er deshalb nicht zu mir zurückgekommen?Weil er etwas Besseres gefunden hatte?
17
D er Ungeweihte stöhnt und greift nach uns, während er in seinem kleinen Rad herumstolpert. Ich schaue auf seine Beine, die so lange weiterlaufen werden, wie er Menschenfleisch wittert.
»Ist mit dir alles in Ordnung?«, frage ich meine Schwester. »Ich habe gesehen, wie sie dich auf der Brücke festgenommen haben, und dachte schon, sie hätten dir wehgetan.«
Sie schüttelt den Kopf. »Nein. Mir geht es gut. Sie haben mich nur in einen Raum geworfen, weil …« Sie sagt nicht, dass sie der Köder für Catcher gewesen ist, und ich bedränge sie auch nicht.
»Also, du und Elias, was?« Ich versuche mir meine Anspannung nicht anmerken zu lassen.
Ihr Lächeln strahlt heller in diese Dunkelheit als die Lampen. »Ich bin verliebt in ihn, Annah.«
Ich lächele, doch mir ist schlecht. Bei dem Gedanken an die beiden zusammen und weil ich so selbstsüchtig bin. Ich hätte sie nicht auf ihn ansprechen sollen. Damit habe ich die Faust insWespennest gesteckt: Ich wusste ja, was dabei herauskommen würde.
»Und du bist mit Catcher aufgewachsen?«Wenn ich an ihn denke, sehe ich ihn inmitten der Ungeweihten stehen, als wäre er einer von ihnen. Ich denke an seine Hitze, die ich gespürt habe, als er mich durch den dunklenTunnel getragen hat.
Ich will mehr über ihn wissen. Ich will ihn verstehen.
Sie nickt. »Er war …« Einen Augenblick lang geht ihr Blick ins Leere, dann blinzelt sie schnell. »Er war der Bruder meiner besten Freundin.« Sie tritt näher an den Ungeweihten heran und schaut ihn an, als ob sie einem Rätsel auf der Spur wäre, als ob sie herausfinden wollte, wer er als Mensch gewesen war.
»Nachdem er gebissen wurde, hat er sich verändert.« Sie lacht verlegen. »Nun ja, natürlich hat er sich verändert. Er war angesteckt und dachte, er würde sterben, aber …«
Ich erinnere mich an diesen Augenblick in den Neverlands, als ich gedacht hatte, ich wäre gebissen worden. Diese Angst, dass all die Jahre des Kämpfens und der Anstrengung plötzlich nutzlos gewesen sein könnten.
»Wie?« Meine Stimme klingt rau, und ich schlucke, ehe ich
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