Die Stadt der tausend Schatten: Roman (German Edition)
unmöglich. Er sitzt in der Falle. Mein Körper ist nur noch rasender Puls, mein Herz hämmert, als ich zusehe, wie die Ungeweihte ihn langsam durch den Käfig verfolgt. Sie ist tot, ihre Bewegungen sind unkoordiniert, folglich kann er sie leicht ausmanövrieren, er springt aus ihrer R eichweite und bewegt sich im Kreis um sie herum, dabei ist er ihr immer einen Schritt voraus.
Anfangs wirkt es noch leicht. So schnell und wendig wie er kann sie niemals sein . A ber mit der Zeit zeigt er Erschöpfung. Sein Hemd klebt ihm verschwitzt am R ücken, obwohl die kalte Winterluft durch ein kaputtes Oberlicht ins Auditorium pfeift.
Mir fällt jetzt erst auf, wie eingefallen seineWangen sind. Wie lange mag es wohl her sein, seit er das letzte Mal etwas zu essen oder zu trinken bekommen hat? Wie lange kann er wohl kämpfen, bevor sein Körper nicht mehr länger mitmacht?
Die Frau ist natürlich nicht aufzuhalten. Selbst wenn der Mann nochTage weiterlaufen könnte, sie würde niemals still stehen. Er wird irgendwann vor Erschöpfung, Hunger oder Mangel an Flüssigkeit zusammenbrechen – die Ungeweihte ist davon nicht mehr betroffen.
Man kann nicht wissen, wie lange sie schon tot ist – Tage? Wochen? Monate? Ihre Kleidung weist sie als Souler aus, als Mitglied der Sekte, die Ungeweihtsein als ultimative Auferstehung verehrt. In diese Sekte hatte Elias sich eingeschlichen, statt nach Hause zu kommen. Er hat gesagt, sie wären von den R ekrutern angegriffen worden. Und ich erinnere mich wieder, wie sie neulich auf der Straße hinter dem Mädchen, Amalia, und diesem Jungen her gewesen waren. Bei dem Gedanken, Elias könnte irgendwas mit dem zu tun haben, was dort unten vorgeht, dreht sich mir vor Abscheu der Magen um. Vielleicht ist er ja irgendwie verantwortlich dafür, dass diese Soulerfrau hier ist … dass sie tot ist.
Bald wird die Menge unruhig und fängt an zu buhen. Die Männer unterhalten sich miteinander, ihre Aufmerksamkeit lässt nach, und ich kauere mich unter die Fenster, weil ich fürchte, einer von ihnen könnte in meine Richtung schauen. Ich will wieder durch den Korridor zurückkriechen. Ich will in die Nacht hinausrennen, in die Seilbahn klettern und mich wegtragen lassen von dieser schrecklichen Insel und diesen grauenhaften Leuten.
Nur ist Flucht keine Option, und selbst wenn es anders wäre, ich kann mich nicht rühren. Ich sitze fest und muss mir die letzten grausamen Momente des Lebens dieses Mannes ansehen. Ich kann hier nur hocken und das Stöhnen und die Schreie mitanhören.
Jedes Mal, wenn der Mann um Gnade fleht, erschaudere ich. Die Grausamkeit dessen, was hier vorgeht, ist einfach unglaublich.
Die Klänge aus der Menge verändern sich indessen, Sprechchöre und Zurufe werden laut . A ls ich wieder über das Sims schaue, sehe ich, wie Conall einem Mann auf der anderen Seite des Raumes ein Zeichen gibt, der durch eine schmale Tür schlüpft. Bevor sie zuschlägt, kann ich noch einen Blick auf das werfen, was dahinter ist. Mein Körper ist wie gelähmt. Noch mehr Ungeweihte sind dort an dieWand gekettet, Dutzende ziehen und zerren an ihren Fesseln, ihre Kiefer sind mit Stoffstreifen zusammengebunden.
Der R ekruter geht den Korridor entlang, zwischen denToten hindurch, als ob er ein Kommandant wäre, der dieTruppen inspiziert. Dann bleibt er stehen. Er zeigt auf einen Ungeweihten, und zwei aschfahle R ekruter beeilen sich, den Mann von seinen Ketten zu lösen und ins Auditorium zu schaffen.
Es ist widerlich und entsetzlich und auf hirnrissigeWeise gefährlich, aber die übrigen Männer jubeln beim Anblick des neuen Ungeweihten, dass ihre Stimmen von den Wänden widerhallen. Conall grinst boshaft, und die Pestratte wird in den Käfig geworfen. ZweiTote gegen einen Lebenden.
Jetzt kann der Mann nicht mehr so leicht entkommen. Seine Bewegungen werden hektisch, und ich bohre mir die Finger in die Schenkel, als ich sehe, wie er den ungelenken Angriffen ausweicht.
Langsam und unbeirrbar treiben die Ungeweihten den Mann gegen das Gitter. Sein verzweifeltes Wimmern gellt mir in den Ohren, aber ich kann ihm nicht helfen, deshalb fühle ich mich mitschuldig an diesem höllischen Spektakel.
Er kämpft gegen sie. Schlägt um sich. Es gelingt ihm, ein paar Mal den Käfig zu umrunden, bis er stolpert. Die ungeweihte Soulerin stürzt sich auf ihn. Ihr Biss geht nicht tief, und einen Moment lang starren alle auf den Arm des Mannes, der sich hochrappelt und vor der Ungeweihten zurückweicht.
Wie alle
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