Die Stadt der tausend Schatten: Roman (German Edition)
spüre, wie mein Hals rot anläuft, wie meine Ohren rot werden, und frage mich, ob er es wohl bemerkt.
Einen Moment lang werden seine Augen größer, so als ob er das Gleiche fühlen würde wie ich. Dann schlüpft er hinaus auf den Flur, und ich bleibe zurück und presse die Hände auf den Bauch, damit die Sehnsucht nicht zu weit um sich greifen kann.
Am nächsten Morgen beim Aufwachen dringt die Stimme meiner Schwester durch die Tür. Ich rolle mich auf die Seite, betaste vorsichtig meineWange und höre, wie Elias und sie auf dem Flur miteinander reden.
»Ich wollte etwas aufbauen, Elias«, höre ich sie sagen. »Das war es, was wir machen sollten. Gemeinsam. Wir sollten uns nicht mehr so abschotten.« In ihrer Stimme liegt so viel Schmerz undVerlust, dass ich erschrecke. Mir war nie in den Sinn gekommen, dass meine Schwester solcheTräume hatte – dieselbe Art vonTräumen, die ich auch einmal hatte. Wie wenig ich doch von ihr weiß.
Ich habe so viel Zeit darauf verwendet, mich mit ihr zu vergleichen, dass ich gar nicht versucht habe herauszufinden, was für ein Mensch sie eigentlich ist.
Ich höre Rascheln und Bewegung und stelle mir vor, dass Elias zu ihr geht und sie in die Arme nimmt. »Ich weiß, Gabry«, sagt er voll Liebe undVerständnis.
Es dauert eineWeile, ehe sie weiterspricht. »Vielleicht hätten wir von vornherein nicht so lange überleben sollen. Vielleicht sollten wir einfach mit dem zufrieden sein, was wir seit der R ückkehr erreicht haben«, meint sie . A ber ich merke, dass sie eigentlich nicht an dieseWorte glaubt. Ich lächele ein wenig, diesenTon kenne ich gut.
»Glaubst du das wirklich?« Es klingt ein bisschen gedämpft, ich stelle mir vor, dass er die Lippen in ihr Haar drückt und sie noch fester an sich zieht. Ich denke daran, wie Catcher mich gestern Nacht gehalten hat, nachdem ich aus dem Hauptquartier weggelaufen war. Wie schön war es, mich an ihn zu schmiegen und zu glauben, seine Stärke undVersprechungen könnten mich beschützen.
Ich schüttele den Kopf. Furchtbar, wie verletzlich ich mich bei diesem Gedanken fühle.
»Ich weiß nicht.« Meine Schwester flüstert fast. »Es ist nur so …Was soll das alles?Warum haben wir denn so lange gekämpft, wenn am Ende das hier steht?Wenn wir hier nur darauf warten können, dass die Horde irgendwie denWeg über den Fluss findet?Was ist, wenn es nur noch das hier gibt?«
Es raschelt wieder, dann klingt Elias’ Stimme klarer, so als ob er von meiner Schwester abgerückt ist und ihr ins Gesicht sieht. Ich stelle mir vor, wie er die perfekte glatte Haut ihrerWangen berührt. »Manchmal geht es im Leben nicht um das Ende«, sagt er. »Es geht nicht immer um morgen und denTag danach, darum, was wir im Laufe der Jahre erreichen und wie wir dieWelt verlassen. Manchmal geht es nur um das Heute.«
Meine Schwester will ihn wohl unterbrechen, aber er redet weiter. »Jeder von uns könnte morgen sterben, ob die Horde nun kommt oder nicht. Wir könnten krank werden, uns verletzen oder was auch immer. Das ist das Risiko, das man eingeht, wenn man jeden Morgen aufwacht und nach draußen geht.«
Wieder entsteht eine Pause. Rascheln, seine Stimme wird leiser. DenTon erkenne ich wieder, ich schließe die Augen, höre ihn raunen. »Im Leben kann es um dich und mich und das Jetzt und Hier gehen.Wenn du etwas Gemeinsames aufbauen willst, dann können wir das immer noch. Und über das Morgen können wir uns Sorgen machen, wenn es so weit ist.«
Ich warte auf die Antwort meiner Schwester, aber es folgt nur Schweigen. Und dann das leise Seufzen eines Kusses, das mir einen R uck gibt. Lautlos verlasse ich das Bett . A uf Zehenspitzen tappe ich den dunklen Flur entlang, bleibe kurz vor dem Hauptraum stehen und beobachte sie um die Ecke herum.
Einen Augenblick lang schaue ich mir an, wie die Konturen der beiden verschmelzen. In mir wallt eine Sehnsucht auf, die so stark ist, dass sie mich zu verzehren droht . A ber nicht, weil sie in seinen Armen liegt, sondern weil sie so friedvoll sein kann . A nscheinend befürchtet sie nicht, einesTages aufzuwachen und festzustellen, dass er weg ist.
Wenn Elias allein nach Hause gekommen wäre, wird mir klar, wäre es zwischen ihm und mir aber immer so gewesen. Ich hätte immer darauf gewartet, dass er mich wieder verlässt, so wie wir meine Schwester damals imWald verlassen haben.
Im blassen Schein der Morgensonne beobachte ich die kleinen Bewegungen von Elias’ Brust, die er an die Schulter meiner Schwester
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