Die Stadt der tausend Schatten: Roman (German Edition)
einen sicheren Ort gäbe, wir sind gefangen.Von der Insel kommen wir nicht runter.«
In der Ferne sehe ich auf demWall um den Inneren Bereich Laternen brennen. R ekruter stehenWache, bereit, auf jeden zu schießen, der denVersuch macht, hier an Land zu gehen. Ich will nicht glauben, was Catcher sagt. Die Stadt hat immer überlebt, sie war so ein fester Bestandteil meines Lebens, dass ich mir niemals hätte vorstellen können, dass sie plötzlich einfach so verschwinden könnte.
»Wir können hier nicht bleiben«, flüstere ich.
Er rüttelt an meiner Schulter, bis ich ihn ansehe, das vereiste Haar hängt mir im Gesicht. Er streicht es mir hinters Ohr zurück. Dabei spüre ich seine Hitze auf meiner verletztenWange und zucke zurück.
»Annah, was …?« Seine Hand schwebt über dem pulsierenden Schmerz. »Was ist passiert?«
Ich drehe mich zu ihm, sodass er den Abdruck der Hand auf meinem Gesicht sehen kann. Mein Atem bildet eisigeWolken. Ein Gefühl der Hilflosigkeit wallt in mir auf, meine Augen werden feucht.
»Wer hat dir das angetan?«, flüstert er. DieWut darüber, dass mich jemand verletzen konnte, ist deutlich herauszuhören.
Ich presse die Lippen fest zusammen. Er hat recht, im Inneren Bereich haben wir die besten Chancen zu überleben. Die Stadt ist verloren. Ich denke an die Karte und all die schwarzen Nadeln. »Einer von den R ekrutern«, antworte ich schließlich. »Hier ist es nicht sicher. Das sind Monster.«
Catcher verfolgt die Spur meinerTräne mit dem Finger. In seinem Gesicht toben die Gefühle. »Ich werde für deine Sicherheit sorgen, Annah«, sagt er. »Das verspreche ich.«
Ich lasse zu, dass er mich an sich zieht und seine Arme um mich schlingt. Und ich schlucke dieWorte hinunter, die mir die Luft rauben. Ich glaube nicht, dass er das kann. Nicht nach dem, was ich eben gesehen habe.
21
C atcher führt mich zum nördlichen Ende des Inneren Bereichs. Die meisten R ekruter wohnen in dem Gewirr von niedrigen, kastenartigen Gebäuden um das Hauptquartier herum – dem weit ausladenden Bau, der den Kartenraum und das Auditorium mit den eingepferchten Ungeweihten beherbergt.
Weil nach der R ebellion fast alles verlassen war, hatte Ox Elias erlaubt, sich einen Platz zum Wohnen für uns alle auszusuchen. Er hatte eine mittlere Etage des höchsten Gebäudes gewählt, weil er hoffte, der anstrengende Aufstieg würde die meisten R ekruter davon abhalten, uns zu belästigen.
Die Räume sind klein und dreckig, durch lange Flure miteinander verbunden. Catcher steht in der Tür des Zimmers, das meine Schwester für mich ausgesucht hat. Es liegt an einer Ecke des Gebäudes, ein Raum mit riesigen Fenstern und einer Aussicht auf die Brandherde der Dunklen Stadt und die Biegung des schwarzen Flusses.
Es ist ein gemütlicher Raum, spärlich möbliert mit Bett, Tisch und Stuhl.Wahrscheinlich hat die Familie eines hochrangigen Protektoratsbeamten die Möbel zurückgelassen, als sie bei Ausbruch der R ebellion fliehen musste. Ich lege die Hand auf das Fensterglas, ein seltener Luxus in dieserWelt.
Mein Spiegelbild starrt mich an, Narben auf der einen Seite, eine geschwollene rote Strieme auf der anderen. Ich lasse die Haare ins Gesicht fallen und drehe mich zu Catcher um. »Ich werde eine Möglichkeit finden, von dieser Insel wegzukommen«, sage ich und recke trotzig das Kinn in die Luft.
Seine Miene bleibt unverändert, ist nicht zu ergründen. Er atmet tief ein. »Bitte, tu nichts, was dich in Schwierigkeiten bringen könnte, Annah. Nicht jetzt, wo alles so unsicher ist. Wir sind in Sicherheit, warte ab, bis sich die Lage etwas beruhigt hat.«
»Ich werde vorsichtig sein.« Sein Blick geht zu meiner geschundenenWange, dann wendet er ihn ab.
Einen Moment lang stehen wir so da. Es fühlt sich wieder komisch an, so als würden wir uns nur unter traumatischen Bedingungen verständigen können, wenn wir vor Ungeweihten oder R ekrutern fliehen. Wir wissen nicht, wie wir einfach normal miteinander umgehen und über alltägliche Dinge reden sollen.
Beide treten wir unruhig auf der Stelle, während die Kluft der scheinbaren Normalität zwischen uns größer wird.
»Sie schicken mich zurück in die Dunkle Stadt«, sagt er schließlich. »Heute Abend. Jetzt.«
Ich nicke. »Sei vorsichtig.« Darüber muss er lächeln. Er bleibt einfach mit einem Grinsen auf dem Gesicht in der Tür stehen. Sein Haar fällt ihm in die Stirn, und mit einem R uck wacht etwas in mir auf, Hitze rast mir durch die Adern. Ich
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