Die Stadt der tausend Schatten: Roman (German Edition)
mich gebissen hätte, wäre ich nach dem Ausbluten in diesem Keller isoliert genug gewesen, um als Breaker zurückzukehren.
»Bist du okay?«, fragt meine Schwester, als sie wieder zu Atem kommt. Ich nicke. »Nächstes Mal sollten wir lieber gleich eine Laterne mitnehmen«, sagt sie, und ich lächele.
»Und ein größeres Messer.« Darüber muss sie lachen.
Schweigend erholen wir uns von demVorfall. Ich lasse mich schlaff in einen kaputten Sessel fallen, meine Schwester rutscht an derWand hinab und bleibt vor mir am Boden sitzen. Sie nimmt mein Messer und wischt die Klinge gedankenverloren an ihrer Hose sauber.
Schließlich seufzt sie und legt das Messer beiseite.
»Was ist?«
Beinahe schuldbewusst schaut sie zu mir hoch, dann sieht sie wieder auf ihre Finger, die unruhig auf ihrem Schoß zucken. »Du liebst Elias.« Eine Feststellung, keine Frage.
Überrascht reiße ich die Augen auf. Ich schaue sie vorsichtig an und frage mich, wie sie wohl darauf kommt. Ich kann nicht ausmachen, welche Gefühle in ihrer Stimme mitschwingen. Ob sie wütend ist, verletzt oder traurig, verwirrt oder belustigt. Ich habe keine Ahnung, was sie fühlt, und das frustriert mich, weil wir doch Zwillinge sind. Eigentlich sollte eine die andere besser kennen als sich selbst.
»Er war wie ein Bruder zu mir«, murmele ich. Eine sichere Antwort. »Natürlich liebe ich ihn.«
»Das habe ich nicht gemeint, Annah«, sagt sie. DerselbeTon. Eine Erinnerung aus der Kindheit regt sich, sie hat alles immer ernster genommen als ich. Ob das wohl noch immer so ist?
»Du liebst ihn jetzt auf die gleiche Art wie ich«, fährt sie fort. Ich merke, dass sie sich nicht wohl dabei fühlt, aber trotzdem beißt sie die Zähne zusammen und wartet auf die Antwort, ohne sich für die Frage zu entschuldigen.
Mein erster Impuls ist, sie anzubrüllen, dass sie ihn unmöglich so lieben kann, wie ich es getan habe. Ich habe denWald mit ihm überlebt. Ich habe mit ihm zusammengelebt, seit wir Kinder waren, die um Haaresbreite durchgekommen waren und darum kämpften, sich in derWelt zurechtzufinden – ganz ohne Hilfe. Ich bin die ganze Nacht aufgeblieben und habe auf dem Dach mit ihm Sterne gezählt.
Ich kenne ihn besser als er sich selbst, und sie kann niemals für ihn sein, was ich bin.Was ich war.
Aber ich sage nichts. Denn ich merke, dass dies Dinge sind, die ich früher mal so gefühlt habe. Mittlerweile sind sie eher zu einer Art Gewohnheit geworden, weil ich so viele Jahre darauf gewartet habe, dass er nach Hause kommt, so viele Jahre gedacht habe, ich müsste ihn in Sicherheit wissen.
Ich weiß nicht recht, ob ich noch verstehe, was Liebe ist.Wenn ich sehe, wie meine Schwester und Elias miteinander sind, begreife ich allmählich, dass sie so viel mehr, so viel tiefer ist als das, was ich erwartet hatte.
»Hat er gewusst, dass du ihn liebst?«, fragt sie.
Ich denke an die Nacht, bevor er weggegangen ist . A ls seine Finger über meinen Körper strichen. Da hätte er es wissen müssen.
Ich zucke mit den Schultern.
Sie lehnt den Kopf an dieWand und starrt hoch zur Decke. »Er hat mit solcher … Inbrunst von dir gesprochen. Er hat verzweifelt versucht, dich zu finden«, sagt sie.
Ich schnaube verächtlich, weil ich ja weiß, dass das nicht der Fall war. Er ist ja lieber bei den R ekrutern geblieben, als zu mir nach Hause zu kommen.
»Du weißt doch, dass er da gelogen hat?«, frage ich. »Dass er nie nach mir gesucht hat. Er war die ganze Zeit bei den R ekrutern.«
Ihre Miene verfinstert sich, und sie zuckt mit den Schultern. »Er hat getan, was er tun musste.« Ich frage mich, ob sie sich das wohl abnimmt. Oder macht man das so, wenn man jemanden liebt: Akzeptiert man die schlechten Entscheidungen ebenso wie die guten?
»Er sagte, du seist schön und stark und süß«, erzählt sie leise.
Meine Stimme bleibt ruhig und gelassen, aber von meinem Herzen prallen ihreWorte ab. »Er hat eindeutig gelogen.«
Sie schaut mich an. Ihr Gesichtsausdruck ist traurig und ernst. »Hasst du mich?«
Sofort öffne ich den Mund, nein, will ich sagen, aber ich schlucke dasWort runter. Hasse ich sie?
Ja. Ich hasse sie, weil sie ein bequemes Leben gehabt hat.Weil sie an jenemTag auf dem Pfad hingefallen ist, weil ich sie zurücklassen musste.Weil sie mit einer Mutter aufgewachsen ist.Weil sie nicht in den Stacheldraht geraten und grässlich verunstaltet worden ist.
Weil sie mir gezeigt hat, was ich hätte sein können, wenn ich nicht kalt und dunkel und hohl
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