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Die Stadt der tausend Schatten: Roman (German Edition)

Die Stadt der tausend Schatten: Roman (German Edition)

Titel: Die Stadt der tausend Schatten: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carrie Ryan
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geworden wäre.
    Aber natürlich trägt sie keine Schuld. Sie konnte nichts dafür, dass sie an jenemTag auf dem Pfad hingefallen ist. Sie hat mich nicht gezwungen wegzugehen, nicht gezwungen, mich für Elias und gegen sie zu entscheiden.
    »Ich hasse dich nicht, weil du Elias liebst«, antworte ich wahrheitsgemäß. Immerhin sind wir Zwillinge, da sollte es keine Überraschung sein, dass wir beide denselben Mann geliebt haben.
    Wenn ich ihn denn überhaupt je geliebt habe.
    Sie kniet sich vor mich hin – ich kann ihren Gesichtsausdruck immer noch nicht deuten. Sie hält sich so bedeckt. Ob ich wohl genauso bin? Mir ist, als ob in mir ein Sturm toben würde.
    »Ich möchte begreifen, wer du jetzt bist, Annah«, sagt sie. »Ich habe alles vergessen und weiß nicht mehr, wer wir früher waren, aber wir sind immer noch Schwestern. Wir sind Zwillinge. Das bedeutet mir etwas. Ich möchte dir auch etwas bedeuten. Ich will, dass wir Freundinnen sind.« Sie senkt den Blick, als hätte sie Angst vor meiner R eaktion.
    Ich stehe so schnell auf, dass Lichtpunkte vor meinen Augen tanzen. Dann gehe ich quer durch den Raum, ich brauche Abstand. Das Atmen fällt mir schwer, meine Brust ist so eng. So eng, dass es wehtut.
    Ich presse die zitternden Finger auf die Lippen.
    Dann höre ich, dass sie aufsteht … und ihre Schritte. »Tut mir leid«, flüstert sie. »Ich hätte nichts sagen sollen. Ich hätte nicht …«
    Mit einem Kopfschütteln schneide ich ihr dasWort ab. Ich will ihr sagen, dass ich es nicht gewohnt bin, geliebt zu werden. Dass ich schreckliche Angst davor habe . A ber sie ist mein Zwilling – ich kann sie nicht auf Armeslänge von mir fernhalten. Sie wird meine Abwehr nur allzu leicht unterlaufen können, weil sie mir so ähnlich ist.
    »Das würde mir gefallen«, bringe ich schließlich kaum hörbar hervor. Ich drehe mich um und sehe die Erleichterung auf ihrem Gesicht. »Du hast mir gefehlt«, füge ich hinzu. »Es tut mir leid, dass ich dich verlassen habe.« Eine Leichtigkeit überkommt mich, weil ich es ausgesprochen, weil ich mich endlich entschuldigt habe.
    Sie fegt meine Worte mit einer Handbewegung weg, löscht den Bedarf für Entschuldigungen, Schuld und Bedauern aus. Ich betrachte ihre Finger. Wie ähnlich wir uns doch sind, bis in die kleinsten Kleinigkeiten. Bis zu der Form unserer Fingernägel, unseren Gesten und unserer Mimik. Das ist seltsam anzusehen nach einer so langen Trennung, aber gleichzeitig ist es auch ein Trost, ihr wieder nahe zu sein.
    Und zu wissen, dass es jemanden auf derWelt gibt, der mich versteht und mich liebt.
    »Wir sind Schwestern«, sagt sie einfach, als ob dieseWorte einen Strich unter alle Fehler derVergangenheit ziehen könnten. So als ob es bedeuten würde, dass wir uns haben, immer, egal, was auch passieren wird im Leben.
    »Ja«, erwidere ich. »Wir sind Schwestern.«

23
    I m Laufe der nächsten paarTage durchsuchen meine Schwester und ich alle Gebäude, in die wir uns hineinschleichen können, doch wir finden nichts: keinen Hinweis auf den Zugang zu einemTunnel und keine andere Inspiration für eine Flucht von der Insel.
    Während dieser Zeit sehe ich Catcher nicht – nicht aus der Nähe jedenfalls . A b und zu erhasche ich einen Blick auf ihn, wenn erVorräte aus der Seilbahn ablädt und sich dann wieder in die Dunkle Stadt aufmacht. Mit jeder Fahrt wirkt er erschöpfter.
    Er fehlt mir.
    Meine Schwester und ich finden einiges, während wir die verlassenen Gebäude durchsuchen. Sie hat einen Haufen alterWolldecken und Kleider gesammelt, die sie zerschnitten und zu einem Quilt zusammengenäht hat. Nachdem ich ihr einen Nachmittag lang zugeschaut habe, helfe ich ihr, obwohl es offensichtlich ist, dass ich weder ihre Fingerfertigkeit noch Genauigkeit besitze.
    Elias hat mehr Zeit mit uns zu Hause verbracht, was bedeutet, dass unsere Bewegungsfreiheit eingeschränkt ist. Ihm gefällt dieVorstellung nicht, dass wir hinausgehen und möglicherweise den Zorn der R ekruter erregen könnten. Während meine Schwester ganz zufrieden damit zu sein scheint,Tag fürTag dazusitzen und zu nähen, bin ich es nicht gewohnt, eingesperrt zu sein. Ich kann nur eine begrenzte Anzahl von Flicken zusammennähen, und schließlich sage ich ihnen, dass ich aufs Dach gehen werde, um frische Luft zu schnappen.
    Unser Gebäude ist das höchste im Inneren Bereich und ermöglicht mir einen freien Blick auf dieWelt. Es wird Abend, es schneit immer noch, doch am Horizont glüht ein oranger

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