Die Stadt der tausend Schatten: Roman (German Edition)
und eiskalte Luft schnappend stehen wir da. Gedankenverloren streicht er mir eine nasse Haarsträhne hinters Ohr, seine Fingerspitzen berühren meine Wange kaum. Für kurze Zeit vergesse ich mich zu verkrampfen, vergesse, dass mein Haar doch die Wunden verdecken und mich verstecken soll. Für kurze Zeit fühle ich mich normal.
Ich lasse mich nicht vonVorbehalten belasten, die überbordende Freiheit des Augenblicks darf mich stattdessen überwältigen – und ich stelle mich auf die Zehenspitzen und drücke meinen Mund an seinen.
Ich spüre ihn kaum, kann die Hitze kaum schmecken, da stößt er mich weg, so heftig, dass ich ins Stolpern gerate und mich mit der Hand an der Mauer hinter mir abfangen muss. Ich bin so schockiert, dass ich nicht sprechen kann, und er starrt mich nur entsetzt an.
»Mach das nie wieder«, keucht er. »Küss mich niemals.«
Er wischt sich mit der Hand den Mund ab, als wären meine Lippen vergiftet.
Ich kann ihn nicht ansehen und muss mich umdrehen. Diese totale Zurückweisung ist vernichtend.
Und mit einem Schlag ist die ganze Unsicherheit wieder da. Es ist so, als würde man im Dunkeln dieTreppe hinuntergehen und denken, da wäre noch eine Stufe, aber da ist keine mehr, man gerät aus demTritt, verliert das Gleichgewicht und fällt auf den harten Boden.
Einen Augenblick lang hoffe ich, wir könnten vielleicht einfach so tun, als wäre es nie geschehen . A ls hätte ich ihn nie geküsst und er mich nie weggestoßen. Ich wünsche mir nichts mehr als das, aber ich weiß, dass so etwas nicht möglich ist.
Mit verkrampften Schultern gehe ich auf die Tür zumTreppenhaus zu, aber seineWorte halten mich zurück.
»Ich bin angesteckt«, sagt er. »Ich könnte dich anstecken! Begreifst du das denn nicht? Bist du dir denn nicht mal so viel wert, dass du dieses Risiko vermeidest?« Frustriert und wütend läuft er auf und ab, während ich mich an den Türknauf klammere. Ich fühle mich, als würde ich gar nicht existieren, und das schmeckt bitter und ätzend.
Warum er mich nicht küssen kann, spielt keine R olle – nur, dass er mich so von Grund auf abgelehnt hat. Ich atme tief ein, die schneidend kalte Luft ist mir willkommen.Wenn sie mich doch nur innerlich einfrieren würde. Ich verstehe nicht, warum ich immer noch hier draußen stehe, warum ich nicht dieTreppen hinuntergeeilt und vor ihm und diesem Augenblick geflüchtet bin.
»Ich bin mir nicht egal«, flüstere ich, dabei drehe ich mich gerade soweit um, dass ich ihn aus dem Augenwinkel sehen kann.
Er hört auf, hin und her zu laufen, streckt die Hand aus und lässt sie wieder sinken. Man sieht, wie er mit den Gefühlen kämpft. »Tut mir leid, Annah«, sagt er leise. Er steht im Dunkeln, dasTageslicht ist erloschen, während wir uns zum Spaß übers Dach gejagt haben.
»Du musst begreifen, dass ich gefährlich bin. Es spielt keine R olle, was du willst oder ich. Kapierst du das denn nicht?« Er fleht beinahe.
Da ich nicht weiß, was ich sonst machen soll, nicke ich.
»Ich kann das nicht«, fährt er fort, aber ich halte die Hand hoch, um die Entschuldigungen abzuwehren. Ich habe diesen ganzen Abend außer Kontrolle geraten lassen. Kontrolle, die ich in den letzten Jahren perfektioniert hatte. Ich spüre, dass dieWut anschwillt, die ich so lange zurückgehalten habe.
Mit zusammengebissenen Zähnen, damit mir ja nichts rausrutscht, was ich bereuen könnte, reiße ich die Tür auf und mache einen Schritt ins dunkleTreppenhaus.
»Warte, Annah«, ruft Catcher mir nach, doch ich ignoriere ihn. DieWut steigt mir brodelnd die Kehle hoch wie ein Summen. In meinem Kopf wirbelnWorte herum,Worte voller Hass gegen mich und gegen ihn. So bin ich – Glasscherben und Galle. Ich habe mich zu wohl gefühlt, habe meinen Schutzwall gesenkt.
»Du verstehst das nicht.« Er rennt hinter mir her, und gerade als ich die Tür zumachen will, packt er sie und hält sie auf.
Mit wütendem Blick gehe ich auf ihn los. »Ich verstehe das bestens. Ich bin nicht gut genug . A lle wollen Abigail. Die schöne, perfekte Abigail und nicht mich.«
Er greift nach mir, ich reiße meinen Arm weg. Er blinzelt verwirrt.
»Ihr Name ist Gabry«, sagt er, worauf meine Haut anfängt zu glühen, als hätte ich mich verbrüht.
Frustriert schreie ich: »Sie ist Abigail! Sie ist immer Abigail gewesen! Meine Schwester ist so. Die hübsche, makellose Abigail. Und ich bin die hässliche, narbige Annah.«
Er steht wie angewurzelt da, der Schnee verschluckt alle Geräusche
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