Die Stadt der tausend Schatten: Roman (German Edition)
ringsherum. Ich sauge gierig die eisige Luft ein.
»Warum tust du dir das an?«, fragt er schließlich mit einer Mischung aus Mitleid und Mitgefühl. Ich verschränke die Arme vor der Brust und gehe eine Stufe nach unten.
»Was tue ich denn?«
Er hebt die Hand, als wolle er meine Schulter packen, aber dann greift er sich stattdessen in den Nacken. »Warum willst du immer als hässlich gesehen werden?«
SeineWorte nehmen meinerWut die Kraft, nur der Schmerz bleibt zurück.Wenn man alle Luft aus derWelt saugen und meinen Körper von innen nach außen krempeln würde, täte es nicht so weh wie seineWorte eben. »Was?« Ich bringe nur ein Flüstern heraus.
Ich gehe noch eine Stufe weiter hinab und dann noch eine, aber er kommt mir nach, ragt über mir auf, während ich in die Dunkelheit hinabsteige. »Du lässt nie jemanden sehen, wer du wirklich bist, und wenn jemand näher kommt oder auch nur daran denkt, näher zu kommen, dann hältst du ihm deine Narben unter die Nase wie eine Art Abzeichen. Damit hältst du dir Leute vom Leib. Es ist, als würdest du nur das Schlimmste von dir zeigen wollen, als würdest du dich hässlich finden.«
»Ich bin hässlich«, brülle ich ihn an. »Was siehst du denn nicht?« Ich raffe das Haar zurück. »Schönheit ist das nicht!«, schreie ich ihn an, dabei recke ich meinen Hals ins Licht, das durch die Tür fällt. Er weicht zurück, und ich dränge ihn hinaus in den Schnee.
»Schau mich an!« Ich reiße meinen Mantel auf und dann mein Hemd, bis ich nur im kurzen Unterhemd dastehe. Meine Haut glüht vorWut. Die Narben treten hervor wie weiße Striemen . A uf den Schultern und an den Rippen, quer über die Hüften und den Bauch schlängeln sie sich bis hinab in meine Hosen.
»Annah«, sagt er, hebt die Hände und dreht den Kopf weg, so als wäre ich nackt.
»Nein!«, brülle ich ihn an. »Du wolltest wissen, warum ich Leute zwinge, meine Hässlichkeit zu sehen. Ich mache das, weil ich so bin. Das ist alles, was ich bin.«
Ich nehme seine Hand und drücke sie auf mein Brustbein. Seine Berührung ist brennend heiß. Er schließt die Augen.
»Annah«, wiederholt er, ein Flehen und eineWarnung.
»Sieh mich doch an, Catcher«, knurre ich.
Mit blanken Augen starrt er auf mich herab. Ich keuche vorWut, Demütigung, Bedauern, als ich erkenne, was ich da mache.
Ich spüre Catchers Finger wie einen Hauch, sein Daumen streicht wie ein Flüstern über die Narbe auf meiner linken Brust.
Ich schlucke den Groll hinunter, der mir den Hals hochkriecht, dann reiße ich mich los und schnappe mir Hemd und Mantel. Seine Hand hängt immer noch in der Luft, wo eben noch mein Körper war.
Wütend drehe ich mich um und ramme im Gehen den Arm in den feuchten, kalten Hemdsärmel. Ich will ihm erklären, dass ich so oft wegen meines Aussehens gehänselt worden bin. Will ihm von den Männern erzählen, die mich durch die Stadt gehen sehen und vor mir zurückschrecken, wenn sie meine Narben bemerken . A ls ob diese Narben mich wertlos machen würden.
Aber wie könnte er das verstehen? Er ist schön, er hat hoheWangenknochen und blondes Haar, das ihm in die Stirn fällt, ein schiefes Lächeln, das selbst das kälteste Herz erwärmt, breite Schultern, schöne Finger und eine alles verzehrende Hitze.
Nichts verunstaltet sein Gesicht. Seine Haut ist glatt und warm und weich.
Er begreift nicht, wie es für mich ist, meine Schwester anzuschauen, die auf jedeWeise perfekt ist – und zu sehen, wie Elias sie begehrt, nicht mich . A ls ob ich niemals gut genug gewesen wäre.
Und jetzt auch noch Catcher.
»Ich finde dich schön, Annah«, sagt er.
Ich schaue ihn finster an. »Das habe ich schon mal gehört«, stoße ich hervor, dabei knöpfe ich mein Hemd schief zu. Ich wage nicht, ihn anzusehen, und erzähle ihm nicht, dass Elias genau das gesagt hat, bevor er mich verlassen hat – bevor er weggelaufen ist und sich eine andere gesucht hat, die er lieben konnte.
Wieder reiße ich die Tür zumTreppenhaus auf, eisiger Schnee ist durch meine Kleider gedrungen und versengt mir die Haut. »Das ist nichts als eine Lüge«, entgegne ich. Dann mache ich den Fehler, ihn anzuschauen, bevor ich die Stufen hinunterstolpere. Er steht mitten auf dem Dach, die Hand ausgestreckt, als ob er mein Fleisch immer noch spüren könnte.
24
Z itternd liege ich im Bett, in mir rasen die Gefühle, während ich versuche, unter einem Dutzend Quilts Wärme zu finden. Mir fällt wieder ein, was ich alles zu Catcher gesagt habe,
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