Die Stadt der tausend Schatten: Roman (German Edition)
überrascht mich. Sie fängt an, im Zimmer auf und ab zu gehen. »Du weißt ja gar nicht, wie es ist, wenn man alles vergessen hat . A lles. Und wenn man dann herausfindet, dass das Leben, das man zu kennen glaubte, eine Lüge gewesen ist.«
Ihre Lippe zittert, sie ist denTränen nahe. Mir war nicht bewusst, wie sehr sie das belastet hat. »Du erinnerst dich wirklich nicht?«, frage ich. »An gar nichts? An mich nicht? UnserenVater? Elias und alle anderen?«
Sie schaut weg, doch ich sehe, dass ihre Augen feucht sind. Ich lehne mich an die Wand zurück. Wie mochte das wohl sein, wenn man seine Vergangenheit einfach so verlor? Wäre ich dankbar gewesen, wenn ich nie gewusst hätte, dass es einen Ort gibt, an dem ich mich zu Hause fühlen würde?
Wenn ich nichts hätte, womit ich mein jetziges Leben vergleichen könnte, wäre ich dann zufrieden?
»Ich bin kein Engel«, sagt meine Schwester mit brechender Stimme. »Ich habe Dinge getan, auf die ich nicht stolz bin.«
»Das haben wir alle«, antworte ich automatisch. »So ist das nun mal in derWelt, in der wir leben.«
Doch sie schüttelt den Kopf. Sie scheint etwas sagen zu wollen, aber sie schließt den Mund schnell wieder und schaut lange hinaus auf die Stadt. Ich lausche dem Rhythmus unserer Atemzüge und dem Wind, der vom Fluss herweht.
»Catcher hat mir erzählt, was auf dem Dach vorgefallen ist«, sagt sie schließlich.
»Was?« Stöhnend vergrabe ich den Kopf in den Decken. Mein ganzer Körper glüht, weil ich mich so schäme.
»Warum?«
Meine Schwester setzt sich wieder neben mich und streicht mir durchs Haar. »Er macht sich Sorgen und hat mich gebeten nachzuschauen, ob es dir auch wirklich gut geht.«
Ich kneife die Augen zu und hoffe, das alles ausblenden zu können. »Mir geht es bestens.« Meine Stimme ist gedämpft . A m liebsten wäre mir, das Bett würde mich einfach verschlingen.
Meine Schwester holt tief Luft. »Es gibt da etwas, das du wissen musst.« IhrTon ist so ernst, dass ich eine Gänsehaut bekomme. Langsam richte ich mich auf. Sie ist leichenblass geworden.
Wieder steht sie auf und läuft zum Fenster und zurück. »Catcher und ich waren früher zusammen.«
Ich bin verwirrt. Diese Anschuldigung hatte ich Catcher auf dem Dach entgegengeschleudert, aber geglaubt hatte ich das eigentlich nicht. Ich war einfach wütend gewesen und hatte ihn so verletzen wollen, wie er mich verletzt hatte.
»V-vor Elias«, stottert sie. »Nun ja, hauptsächlich vorher.« In kleinen Kreisen läuft sie im Raum herum, so als könnte ihr Körper die Energie nicht länger bei sich behalten.
»Wir kennen uns schon ewig, er ist der Bruder meiner besten Freundin, und ich war fasziniert von ihm, und eines Nachts haben wir uns geküsst und dann …« Sie schluckt, ich beobachte, wie sich ihr Hals anspannt.
Das Gewicht ihres Geständnisses zerquetscht mich, Eifer sucht frisst an mir, wenn ich mir vorstelle, wie sie und Catcher sich küssen. Wie seine Finger über ihr perfektes Gesicht streichen und wie es sich wohl anfühlen mag, wenn er meines berührt.
Sie bleibt stehen und starrt mich an. »Und dann ist er angesteckt worden, und ich habe alles für ihn getan, was ich konnte. Ich habe meiner Mutter nicht gehorcht, habe die Gesetze der Stadt gebrochen, habe mein Leben riskiert – habe alles für ihn riskiert.«
Mein Herz schlägt langsamer, so als wäre mein Blut zu dick geworden. Ich presse den Handrücken auf den Mund, mir ist übel. »Und was ist passiert?«Vor der Antwort graut mir.
Sie schaut aus dem Fenster in die Nacht hinaus, ihre glatte Haut sieht verzerrt aus im Spiegelbild.
»Er hat mich weggestoßen«, sagt sie mit einem Schulterzucken. »Ich bin Elias begegnet. Er hat erkannt, dass Catcher immun ist. Ich …« Ihr Blick verliert sich in der Ferne. »Ich bin in Schwierigkeiten geraten, und wir mussten weg. Wir sind zurück in denWald gegangen, und das war’s dann.«
Sie schluckt. »Ich habe mich in Elias verliebt und gemerkt …« Sie schaut zu mir, zuckt mit den Schultern, und ihreWangen laufen rosig an.
»Was hast du gemerkt?«
Sie wird noch röter und windet sich ein wenig. Schließlich sagt sie: »Dass meine Gefühle für Catcher vielleicht doch nicht so stark waren.«
Ich runzele die Stirn. »Warum?«
»Weil ich nichts dagegen hatte, dass er mich wegstieß. Ich war bereit, ihn gehen zu lassen, und ich weiß, dass ich Elias niemals gehen lassen könnte.« Sie zögert und ergänzt dann mit festerer Stimme: »Für Elias würde ich
Weitere Kostenlose Bücher