Die Stadt der tausend Schatten: Roman (German Edition)
diesem R uf folgen.
»Komm schon!« Ich hieve sie die Rampe entlang und über die Insel. Wir stoßen gegeneinander, während der Wind uns nach vorn treibt. Niemand hält uns auf, es herrscht nichts als Sturmheulen und Eiseskälte.
Ihre Schritte sind schleppend. Ich schüttele den Kopf, damit ich mich besser konzentrieren kann. Es ist eisig. Es tut weh.
Vor mir taucht ein hohes Gebäude auf, ich halte darauf zu. Nur noch ein Schritt, schreie ich mich an. Ich schaffe nur noch einen mehr.
Jetzt liegt sie schlaff in meinen Armen, und ich schüttele sie, um uns beide warm zu halten. Endlich ist da eine Tür. Ich lasse mich dagegenfallen, stoße sie auf. Meine Schwester taumelt hinein in die Dunkelheit, ich schließe die Tür hinter uns und lasse mich auf den Boden gleiten.
Hier ist es wärmer. Kein Wind. Endlich darf ich schlafen.
29
I n meinenTräumen schreit jemand. Es ist schrecklich, ich will wegzulaufen, aber das Echo verfolgt mich. Und dann ist da Wärme.Wunderbar köstliche Wärme, die so gleißend meinen ganzen Körper durchflutet, dass es schon fast schmerzt. Ich schlage die Augen nicht auf – das ist nicht nötig. Das ist meinTraum, also weiß ich, wer redet, als sie mich anflehen, bei ihnen zu bleiben, als sie mir sagen, dass ich nicht schlafen darf . A ber warum sollte ich nicht schlafen dürfen?
Das sind Catchers Lippen auf meinen Lidern, am Ohr, auf derWange. Er drückt seine Stirn an meine, und ich verstehe nicht, warum er weint.
Das ist meinTraum. Er sollte glücklich sein, so wie ich. Glücklich, geborgen und warm.
Wach auf, bettelt er. Bitte, wach auf.
Ich schrecke auf, jeder Zentimeter meines Körpers brennt.
»Alles ist gut«, sagt jemand, die Vibration der Stimme durchdringt mich, und mir wird klar, dass ich an einen Körper geschmiegt daliege. Die Hitze verrät mir, dass es Catcher ist. Wir liegen auf etwasWeichem, und ich brauche eineWeile, bis ich verstanden habe, dass wir in meinem Bett sind, in meinem Zimmer.
Catchers Lippen berühren sanft meine Stirn.
Ich will ihn gerade fragen, was los ist. Ich will von ihm abrücken, da fällt mir das Flussufer wieder ein und der Schnee, und mein Entsetzen ist so tief, dass ich nicht glaube, je wieder atmen zu können.
»Abigail!«, rufe ich. Ihr Lippen waren so blau, erinnere ich mich. Sie hat so furchtbar gezittert.
»Alles ist gut«, murmelt er wieder. »Sie erholt sich in ihrem eigenen Bett. Sie ist in Sicherheit. Ihr seid jetzt beide in Sicherheit.«
Ich breche zusammen, wende den Kopf von ihm ab. Wie genau sind wir hierher gekommen? Ich erinnere mich nur noch an die Kälte und den Wind. »Was ist passiert?«
Catcher holt tief und zittrig Luft. »Sie haben Elias den ganzenTag in einem Raum gefangen gehalten, damit er euch nicht vom Ufer wegholt . A ls sie ihn freigelassen haben, hat er euch gesucht . A ber ihr wart nicht mehr da. Er dachte, ihr wäret tot. Dann hat euch beide unten gleich hinter der Tür gefunden.«
Er will noch mehr sagen, aber dann überlegt er es sich anders und schlingt die Arme fester um mich. »Es ist nur wichtig, dass ihr jetzt in Ordnung seid«, fährt er schließlich fort . A ber ich kann ihm nicht recht glauben. Ich habe das Gefühl, dass mir nie wieder warm wird, mein Körper zittert vor Erinnerungen. »Ich habe mit Ox geredet«, sagt er. »So etwas wird nie wieder passieren. Nie. Nicht, wenn er meine Mitarbeit will.«
Ich erinnere mich an Ox’ Gesicht, als er mich von der Rampe geworfen und als der R ekruter mich geschlagen hat. »Dem ist das egal«, sage ich. »Er tut alles, um Ordnung zu halten.« Zögernd löse ich mich von Catcher. Ich probiere meine Finger aus, öffne und schließe die Hand, aber die Bewegung schmerzt. »Wir müssen einenWeg hier raus finden«, sage ich.
Er steht auf und geht zum Fenster. Draußen ist ein strahlend blauerTag, so strahlend, dass mir die Augen wehtun. Er nickt. »Ich weiß. Ich habe es versucht. Ich habe dieTunnel abgesucht und nach Orten gefahndet, die sicher sein könnten. Es gibt nichts. Noch nicht. Ich bin …« Er fährt mit dem Finger über die Scheibe. »Tut mir leid, dass ich der Grund bin, warum du hier bist.«
Ich befreie mich aus den Decken und fauche, als meine geschwollenen Füße den Boden berühren. Ich gehe zu ihm, nur eine dünne Linie der Leere bleibt zwischen uns. »Das ist nicht deine Schuld.«
Er zuckt mit den Schultern. »Ich bin der Immune. Du der Köder.« In seiner Stimme liegt Bitterkeit. Wie sehr er sich selbst hasst, das ist doch nicht
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