Die Stadt der tausend Schatten: Roman (German Edition)
stoße die Tür mit dem Fuß zu . A lles ist so, wie ich es in Erinnerung habe: Die Wände sind mit verblassten Zeichnungen von derWelt, wie sie einmal war, bedeckt. Stecknadeln liegen am Boden verstreut, auf den Schreibtischen stapeln sich vernachlässigte Stapel von Papieren und Journalen.
Ich blättere ein paar Seiten durch, es sind Aufzeichnungen von Kundschaftern, die von diversen Expeditionen zurückgekehrt sind und über Enklaven von Überlebenden berichteten. Es gibt Spalten mit ordentlich aufgereihten Ziffern, die Männer, Frauen und Kinder aufführen.Vorräte undWaffen werden aufgelistet, Quoten, die es zu erreichen gilt, um der Kontrolle des Protektorats für würdig befunden zu werden.
All diese Informationen werden von einer winzigen bunten Nadel auf einer Landkarte zusammengefasst. Die meisten Orte gibt es längst nicht mehr. Ich frage mich, wie viele Menschen, von denen auf diesen Seiten die R ede ist, mittlerweile tot sind. Und ob die, die diese Briefe geschrieben haben, die, die an all diese Orte gereist sind, auch längst tot sind.
R ealität ist, dass alle sterben. Entweder ganz sicher in ihrem Bett oder in einer Gasse gefangen, wo sie einem gewandelten Freund, einem Familienmitglied oder Geliebten gegenüberstehen. Ob sie nun von einem R ekruter erschossen werden oder einfach nur mitten im Schneesturm in einem Boot treiben, Körper verzehren sich selbst, während dieVorräte zur Neige gehen.
Mir wird das einesTages auch passieren. Ich frage mich, warum ich so heftig gegen das Unausweichliche ankämpfe.Was ist denn schon einTag mehr? Und was derTag danach? Langsam gehe ich im Raum herum und streiche mit der Hand an derWand entlang.
Mein Daumen bleibt an einer grünen Nadel hängen. »Vista«, lese ich laut. Die Stadt am Meer, die Stadt meiner Schwester. Catcher ist dort aufgewachsen und hat sich da angesteckt. Dort hat er überlebt – kaputt.Westlich von Vista zieht sich eine dicke schwarze Linie über die Karte, bis zur Küste hin, und hinter dieser Linie ist nichts, ich weiß aber, dass dieses Nichts denWald darstellt.
Und irgendwo in diesem Nichts liegt das Dorf, in dem ich geboren wurde und in dem ich die ersten Jahre herangewachsen bin. Ich lege meine Hand darauf, derWald geht über die R eichweite meiner Finger hinaus.
»Es ist nicht mehr da«, sagt jemand mit tiefer Stimme hinter mir. »Dein Dorf.«
Ich zucke zusammen, ich weiß sofort, dass es Ox ist, und greife nach der Machete an meiner Hüfte. Er macht keine Anstalten, mich zurückzuhalten und regt sich nicht mal, als ich sie aus dem Gürtel ziehe und die lange Klinge zwischen uns glänzt.
»Was meinst du damit: mein Dorf?«, frage ich, mir wird eiskalt innerlich. »Woher weißt du überhaupt, wo ich herkomme?«
Ox lehnt sich an dieWand neben der Tür, die Arme lässig vor der Brust gefaltet.Von seiner Masse mal abgesehen, wirkt er nicht bedrohlich . A ber ich weiß es besser.
Er zuckt mit den Schultern, als ob er nicht über ein Dorf reden würde und über Menschen, über meinenVater und Nachbarn. »Es ist weg.«
Ich mache große Augen, zwischen uns zittert die Machete. Eigentlich sollte das keine R olle spielen, denke ich. Elias und ich hatten früher bereits versucht, das Dorf zu finden, und waren gescheitert. Wir hatten schon vor langer Zeit aufgegeben . A ber ich hatte mir immer dieses winzige bisschen Hoffnung erhalten, dass wir vielleicht einesTages wieder hinfinden würden. Und alle, die wir zurückgelassen hatten, würden uns mit offenen Armen empfangen.
Ox muss dieVerzweiflung in meinem Gesicht sehen. Er muss doch bemerken, wie durcheinander ich bin, aber er bleibt einfach, wo er ist, atmet langsam ein und aus, mit einem Gesicht, das keine Gefühle zeigt.
»Vielleicht war noch etwas davon übrig – die Zäune standen, und ein paar Häuser sahen aus, als würden sie noch in Stand gehalten . A ber deine Freunde haben das zunichtegemacht, sie haben die Zäune eingerissen, um Conall und seine Männer aufzuhalten.« Wieder zuckt er mit den Schultern, und ich möchte ihn schlagen. »Hat nicht geklappt«, sagt er. »Und natürlich haben sie es bereut, als sie sich später wieder nach Vista durchkämpfen mussten.«
Er hockt sich hin, sucht auf dem Boden herum, bis er eine schwarze Nadel findet . A ls er wieder aufsteht, knacken seine Knie ein wenig. Er geht an mir vorbei zur Karte und befestigt die Nadel.
Ich starre auf die äußerste Spitze der Machete, die vor mir in der Luft zittert. Wie würde es sich wohl
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