Die Stadt der tausend Schatten: Roman (German Edition)
überlegen kann, was wir nun machen.
31
A m nächsten Morgen wache ich auf und finde ein Paket auf dem Stuhl am Fenster vor. Es ist in ein abgewetztes Stück Stoff gewickelt. Ich schaue mich im Zimmer um und überlege, wer wohl da gewesen sein mag. Es ist eisig kalt, ich hülle mich in eine Decke, klettere aus dem Bett und ziehe das Bündel auf meinen Schoß, wo ich es auspacke.
Darin liegt ein dickerWollmantel, der aussieht, als wäre er nie getragen worden. Die Kanten sind mit einem komplizierten Muster bestickt, über das ich mit dem Finger streiche. Irgendetwas anderes steckt noch in dem Mantel, ich ziehe einen bunten Strickschal und eine dazu passende Mütze heraus. DieWolle ist so dick und weich, dass ich sie einfach an mein Gesicht drücken muss, um die weichen Fasern an denWangen zu spüren.
Dieses Geschenk ist mehr als perfekt. Ich schaue auf, als meine Schwester die Tür zu meinem Zimmer öffnet. Sie sieht mich mit dem Bündel in den Händen.
»Warst du das?«, frage ich und überlege, wie sie das wohl geschafft haben mag. Ich habe sie nie stricken sehen, und ich weiß nicht, wo sie so wunderbares Material gefunden haben könnte.
Sie lächelt, ihre Augen strahlen, aber sie schüttelt den Kopf. »Das war Catcher. Er ist letzte Nacht vorbeigekommen und hat gesagt, dass eine Frau in der Dunklen Stadt ihm so gern etwas dafür geben wollte, dass er sie mit Essen versorgt und am Leben gehalten hat. Er dachte, du könntest etwas gebrauchen.« Sie zeigt auf mein Stoppelhaar.
Ich ziehe mir die Mütze über die Ohren und genieße die weiche Wärme.
»Mir hat er auch etwas mitgebracht.« Sie hält mir ein dickes Buch hin. Ich nehme es und streiche über das rissige Plastik, das früher einmal den Umschlag geschützt hat. Ich blättere Seiten mit Zeichnungen von Häusern und Bauwerken durch, die ich nicht verstehe.
»Architektur«, sagt sie und kann ihre Aufregung nicht verbergen. »Da geht es ums Bauen.« Sie nimmt mir das Buch ab und setzt sich mit untergeschlagenen Beinen aufs Bett. »Ich habe immer Sachen bauen wollen, und daran hat er sich erinnert.«
Ich wickele mir den Schal um die Arme und halte einen Zipfel an die Nase. Ist immer noch eine Spur von Catcher auszumachen? »Wie aufmerksam von ihm.« Wie er diese Sachen wohl gefunden hat? Wie lange muss er gesucht haben. Ich frage mich, warum er mich nicht geweckt, warum er keinWort zu mir gesagt hat. Ich stelle mir vor, wie er nachts in mein Zimmer geschlichen ist, und wie ich geschlafen und nichts davon gemerkt habe.
Er war hier, hätte am Fuß meines Bettes stehen können – und er hat nichts gesagt. Es ist offensichtlich, er geht mir aus demWeg. Ich ziehe den Mantel an und kuschele mich in den schweren Stoff, als ob dieser mich vor diesen Gefühlen bewahren könnte.
»Nun, worauf wartest du?«, sagt sie. »Zieh dich fertig an, dann treffen wir uns auf dem Dach. Dann sehen wir ja, wie warm dich das alles hält.«
Ich hatte mit vorgenommen, die Gebäude auf dieser Seite der Insel noch einmal eingehender zu erkunden, weil ich hoffe, dass wir in einem der Keller etwas übersehen haben. Vielleicht gibt es da ja doch einen Zugang zu denTunneln.
Ich rutsche vom Bett und gehe ans Fenster. Meine Schwester stellt sich neben mich, als würde sie mein Zögern spüren . A m anderen Flussufer schwelen die Neverlands, und die Dunkle Stadt liegt grau und schlafend da. DieToten drängen sich immer noch durch die Straßen, sie stürzen von den Docks insWasser und werden schließlich am Ufer des Inneren Bereichs angespült.
»Was meinst du, wo sie die Soulers untergebracht haben?« Ich schaue auf die Mauer und frage mich, wie viele in der letzten Nacht das Ufer gesäubert und uns beschützt haben mögen – ohne einen Lohn dafür zu bekommen.
»Ich weiß nicht«, flüstert meine Schwester leise. »Im Keller des Hauptquartiers waren eine Menge Räume. Da haben sie mich festgehalten.« Bisher hat sie noch nicht über die Zeit ihrer Gefangenschaft geredet – die Zeit, bevor wir hierhergekommen sind. Ihr Gesicht wirkt verhärmt.
»Da unten waren auch noch andere. Ich wusste, dass sie da waren, aber …«
»Was aber?«
»Manchmal haben R ekruter sie abgeholt und nicht wieder zurückgebracht.« Fröstelnd verschränkt sie die Arme. »Ich habe nie gefragt, was sie mit all diesen Menschen gemacht haben. Ich wollte es nicht wissen.«
Ich denke an dieTodeskäfige, die ich an meinem ersten Abend hier gesehen habe, an den ängstlichen Mann, den sie den Ungeweihten
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