Die Stadt der verkauften Traeume
dieses Jahr auch noch einen Chor haben. Sie hat gesagt, dass ich dir ebenso gut alle deine Fragen beantworten kann.«
»Wirklich?«, murmelte Lily und versuchte, sich ihr Misstrauen nicht anmerken zu lassen.
Erst jetzt sah sie ein aufwendiges Puppenhaus auf der anderen Seite des Zimmers stehen, dessen kleine Bewohner sich in eleganten Posen in den verschwenderisch eingerichteten Zimmern ausbreiteten. Unter dem Dach sah sie sogar ein mädchenhaftes Dienstmädchen, rosig und plump und ebenso makellos wie seine Spielzeugherrschaften. Sie hatte ein Seidenkleid an, das einem Arbeitskittel nachempfunden war, aber ohne Flicken, und sie bügelte Satinlaken mit einem Miniaturbügeleisen aus reinem Silber. Die Puppe stand in krassem Gegensatz zu dem zerlumpten Jungen, der ihr die Tür geöffnet hatte, oder zu den Mädchen mit den eingefallenen Gesichtern, die sie gekannt hatte, als sie selbst noch hier wohnte.
»Aber ja, ich habe mir die Akten angesehen …«, erwiderte Cherubina mit großem Gehabe und fügte dann mit einem Kichern hinzu: »Ich glaube, ich habe sie in eine der Schmuckkassetten gesteckt. Einen Moment bitte …«
Cherubina erhob sich mit rauschenden Röcken und zog eine Schublade nach der anderen aus dem Holzschreibtisch. Lily sah ihr mit einer sonderbaren Faszination zu. Sosehr sie sich auch anstrengte, sie konnte sich nicht an Cherubina erinnern. Sie hatte nicht einmal gewusst, dass die Oberin eine Tochter hatte. Andererseits, wenn sie sich die Unmenge von Babypuppen ansah, zweifelte sie daran, dass Cherubinas Interesse an Kindern über den Zeitpunkt hinaus bestand, zu dem sie ihr Antwort geben konnten …
Cherubina kramte weiter in den Schubladen. »Mami hat gesagt, du willst irgendwas über deine Vergangenheit wissen.«
»Genau«, erwiderte Lily und sah zu, wie sich ein ständig wachsender Haufen aus Halsketten, Armbändern und Ohrringen auf dem Tisch stapelte. »Ich wollte wissen, ob ich eine Familie hatte.«
»Falls ja, dann jetzt nicht mehr.« Cherubinas Stimme klang dumpf. »Sie haben dich verkauft, oder vielleicht sind sie auch gestorben.«
»Trotzdem«, sagte Lily und biss sich auf die Innenseite ihrer Lippe. »Ich will es wissen.«
Cherubinas Gesicht tauchte aus der Kassette auf und drehte sich verdutzt zu ihr um. »Wie merkwürdig«, sagte sie und verzog das Gesicht. »Aber du bist ja auch ein merkwürdiges Baby gewesen. Ich kann mich noch an dich erinnern, obwohl ich damals noch ganz klein war. Du hast nie geweint, hast einfach nur in deinem kleinen weißen Kittel dagesessen und uns angesehen.« Dann zog Cherubina mit einem triumphierenden Grinsen ein zusammengefaltetes Stück Papier aus der unteren Schublade. »Deshalb habe ich dich Lily genannt.«
Lily gelang es nicht, ihr Erstaunen zu verbergen. »Du hast mich … Lily genannt … Aber ich dachte, du wärst noch zu klein gewesen …«
»War ich auch, aber Mami konnte mir noch nie etwas abschlagen.« Cherubina strahlte übers ganze Gesicht. »Ich hab dich so beharrlich immerzu Lily genannt, weil das meine Lieblingsblumen waren, als ich klein war, und du hast genau wie eine Lilie ausgesehen! Heute sind mir Hyazinthen natürlich lieber, die sind jetzt absolut in Mode …«
Cherubina hielt inne und warf einen kritischen Blick auf Lilys ausgebleichten Arbeitskittel. »Schade, dass es nicht dabei geblieben ist. Jetzt siehst du kaum noch wie eine Lilie aus … aber das ist natürlich nicht deine Schuld.« Sie tätschelte Lilys Hand, lächelte einfältig und schob ihr das Stück Papier zwischen die Finger. »Hier ist dein Bericht. Du hast Glück, dass Mami so ordentlich ist.«
Lily starrte das Stück Papier in ihrer Hand an. Dann, ganz langsam, faltete sie es auf und fing an zu lesen.
Name: Lily
Herkunft: unbekannt. Wurde als Baby am Agora- Tag auf unserer Schwelle gefunden, zu Beginn des 130sten Jahres des Goldenen Zeitalters. In Ermangelung anderer Informationen und der Einfachheit halber haben wir ihren Geburtstag für die Akten auf diesen Tagfestgelegt.
Fähigkeiten: wenige. Zum jetzigen Zeitpunkt – sie ist sechs Jahre alt – zeigt sie eine gewisse Fertigkeit im Nähen. Mögliche Schwierigkeiten: verfügt über eine störrische Natur. Sollte korrigiert werden.
Zusätzliche Informationen: wurde ohne Angaben zur Herkunft abgegeben, aber mit einem Beutel außergewöhnlicher Edelsteine. Auch die Windeln waren von guter Qualität – und ihnen war der Name Lilith eingestickt – und wurden gegen eine Erstausstattung
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