Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Stadt der verkauften Traeume

Die Stadt der verkauften Traeume

Titel: Die Stadt der verkauften Traeume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Whitley
Vom Netzwerk:
Blick auf das zerfledderte Stück Papier in ihrer Hand. Hier musste es sein. Eindeutig. Ein gedrungenes, solides Gebäude aus grauem Stein an einer tristen, nüchternen Straße. Sogar die Menschenmengen im Stier-Bezirk kamen ihr weniger hektisch vor als im Rest der Stadt. Es war kein Bezirk, in dem Waren feilgeboten wurden; hier kannte jeder seinen Platz, wobei die meisten, so schien es, in der riesigen Papierfabrik arbeiteten, die drohend das gesamte Viertel überragte. Aber dieses Gebäude war anders, und das nicht nur, weil es ein wenig größer war als diejenigen in seiner Nachbarschaft. Hier hatte sie die ersten sechs Jahre ihres Lebens zugebracht.
    Es war Marks letzter Brief gewesen, der es ausgelöst hatte. Er war kurz gewesen und hatte den Eindruck erweckt, als wäre er in aller Eile beendet worden, aber eine Zeile war ihr förmlich entgegengesprungen: Sie hat verkündet, dass ich von meinem Vater träume. Das hatte sie nachdenklich gemacht. Wenn sie ihre Zeit damit verbrachte, die Arzneimittel abzuwiegen oder die Skalpelle des Doktors zu säubern, war der Gedanke in ihrem Kopf gewachsen, hatte ständig an ihr genagt, ihre Aufmerksamkeit in Anspruch genommen: Mark hatte zumindest einen Vater, von dem er träumen konnte. Sie verabscheute sich dafür, denn es war ja nicht so, dass Mark sich gern an den Mann erinnerte, der ihn verkauft hatte, aber selbst wenn er nichts anderes als Schmerz dabei empfand, so war es doch wenigstens etwas.
    Letztendlich musste sie versuchen, das Waisenhaus zu finden. Das dürfte nicht schwer sein, denn ihre Akten wurden im Direktorium aufbewahrt. Sie musste nur einen Brief dorthin schreiben. Trotzdem musste sie ihre ganze Kraft aufwenden, ihn abzuschicken. Er hatte tagelang auf einem Tisch im ehemaligen Tempel gelegen, bis ihn Benedikta bei einem ihrer Besuche in die Hand genommen hatte.
    »Soll ich den für dich aufgeben?«, hatte sie gefragt.
    Lily hatte ihn ihr verwirrt weggenommen und ihr murmelnd erzählt, worum es dabei ging.
    Benedikta war einen Augenblick still geworden und hatte dann sanft gesagt: »Du solltest ihn abschicken, Lily … Wer weiß, vielleicht sucht deine Familie nach dir … Ich weiß nicht, was ich ohne meinen Bruder und meine Schwester tun würde …«
    »Es ist … nicht so einfach, Ben«, hatte Lily erwidert. Sie waren inzwischen einige Monate befreundet, aber Lily fiel es nach wie vor schwer, über ihre Vergangenheit zu reden. »So wie es im Moment ist, da kann ich mir vorstellen, was immer ich will, mir jeden Tag eine neue Familie erfinden … Aber wenn ich tatsächlich herausfinden sollte …«
    »Dass sie dich vielleicht nicht wollen?«, hatte Ben ergänzt.
    »Ja … Woher weißt du …?«
    »Die Signora hat einen Brief geschrieben«, hatte Ben traurig gesagt. »Sie hat ihrem Mann geschrieben, ihn um Verzeihung gebeten.« Ben hatte Lilys Hand genommen. »Das war vor zehn Jahren. Ich muss den Staub um den Brief herum wischen. Er wartet schon die ganze Zeit auf einem Tisch in der Diele. Ich glaube, sie denkt immer noch, dass sie ihn eines Tages abschickt.«
    Lily hatte ihren Brief innerhalb der folgenden Stunde abgeschickt und am darauffolgenden Abend eine Antwort erhalten.
    Sie legte die Finger um das kleine Glasröhrchen mit dem immer noch sichtbar eingeritzten Wort »Ekel«, das sie an einer Kette um den Hals trug, obwohl es schon lange leer war. Es erinnerte sie daran, dass die Angst, die sie empfand, völlig natürlich war. Ihre Erinnerungen an diesen Ort waren keine guten, und obwohl sie noch so jung gewesen war, als sie zuletzt hier gewesen war – kaum älter als sechs Sommer –, überfiel sie sofort wieder die bedrückende Atmosphäre, als wäre kaum ein Tag vergangen. Doch sie würde nicht wieder weggehen, diesmal nicht. Falls irgendeine Spur ihrer Vergangenheit, ihrer unbekannten Eltern, in Agora zu finden war, würde sie sie hier finden. Sie musste es wissen.
    Lily hob den Türklopfer und pochte drei Mal. Das Geräusch hallte drinnen wider. Nach einer Weile hörte sie schlurfende Schritte, eiserne Riegel wurden zurückgeschoben. Die Tür ging ein Stück auf, und ein schmalgesichtiger Junge, der nicht älter als sieben Sommer sein mochte, spähte durch den Spalt zu ihr heraus.
    »Miss Lily. Ich möchte Oberin Angelina sprechen«, sagte sie.
    Der Junge nickte wortlos und zog die Tür ein Stück weiter auf, sodass Lily hineinschlüpfen konnte. Dann machte er die Tür wieder zu und sperrte das Tageslicht aus.
    Zuerst erkannte sie den Geruch

Weitere Kostenlose Bücher