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Die Stadt der verkauften Traeume

Die Stadt der verkauften Traeume

Titel: Die Stadt der verkauften Traeume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Whitley
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wieder, diesen muffigen Geruch nach Feuchtigkeit. Dann wurden ihr die Flure vertrauter. Sie hatte sie viel größer in Erinnerung, als sie ihr jetzt erschienen, aber sie waren noch immer vollgestopft.
    In der Ferne vernahm sie Gesang. Auch daran konnte sie sich erinnern. So stellten sich die Vorsteherinnen den Unterricht vor: den kleinen Köpfen wieder und wieder »Rühmet und preiset Agora« einzutrichtern, ohne ihnen die Stadt auch nur ein Mal zu zeigen.
    Der Junge führte sie an einem offenen Durchgang vorbei, der von Fackeln erleuchtet war. Als Lily hineinschaute, sah sie einen Schlafsaal. Er war sogar noch kärglicher, als sie es in Erinnerung hatte, kaum mehr als Reihen von Bettgestellen mit ein paar Matten und Decken. Auf einer der Matten lag ein Mädchen und hustete. Es konnte nicht älter sein als fünf. Lily sah weg. Sie hatte immer gedacht, dass nur die Kranken in der Nacht verschwanden. Bis es ihr selbst passiert und sie verkauft in einem Haus aufgewacht war, das sie noch nie zuvor gesehen hatte. Eine der wichtigsten Nächte ihres Lebens, und sie hatte sie einfach verschlafen, ohne auch nur einen Blick auf den Himmel zu erhaschen.
    Ganz in Gedanken versunken, brauchte Lily einen Augenblick, um zu bemerken, dass der Junge stehen geblieben war. Er klopfte an eine große Holztür, und ehe Lily sich bei ihm bedanken konnte, war er auch schon im Korridor verschwunden.
    »Immer herein!«, rief eine Stimme hinter der Tür.
    Lily zögerte. Die Stimme klang viel heller und jünger, als sie sie in Erinnerung hatte. Es war zwar schon Jahre her, aber die Oberin war als furchterregende Frau in ihre Erinnerung eingebrannt, mit streng zurückgekämmtem Haar und strengem Gesichtsausdruck.
    »Nun? Es ist unhöflich, seine Gastgeberin warten zu lassen«, beschwerte sich die Stimme. Eilig zog Lily die Tür auf und betrat eine andere Welt.
    Sie blinzelte einige Sekunden in das unerwartete Sonnenlicht, das durch die Fenster hereinströmte und sich an Hunderten von glitzernden Ornamenten brach. Dann, nachdem sich ihre Augen daran gewöhnt hatten, sah sie ihre Gastgeberin. Ihr Gesicht und ihre Gestalt bewiesen, dass sie ein paar Jahre älter war als Lily, doch ihr Kleid war zu kindlich für sie, voll von Schleifen und Satin, und ihre Frisur bestand aus lauter mädchenhaften Löckchen. Zuerst dachte Lily, sie hätte ihre Kleidung passend zu dem Zimmer ausgesucht, das aussah, als sei kaum ein Flecken nicht mit Rüschen und anderem Firlefanz ausgestattet. In einer Hand hielt die Gastgeberin eine verzierte silberne Teekanne.
    »Tee?«, fragte sie und goss sich selbst eine Tasse ein. »Leider nicht der allerbeste. Mami besteht darauf, dass der nur bei den wichtigsten Gelegenheiten verwendet wird. Setz dich doch. Du musst Lily sein.«
    »Ja …«, sagte Lily argwöhnisch und schaute sich nach etwas zum Sitzen um.
    Die Gastgeberin saß an einem runden Tisch, der mit Tassen, Tellern, einem Kuchen und Zucker gedeckt war, doch jeder Platz war bereits von einer großen Puppe mit Glasaugen besetzt. Da sie nicht genau wusste, was sie tun sollte, nahm Lily die Puppe auf dem Platz neben sich hoch und wollte sie zur Seite legen. Aus Neugier drehte sie das Puppengesicht zu sich um und erstarrte. Die Ähnlichkeit war nur schwach – die Puppe war nicht gerade lebensecht –, aber die dunklen Haare und der gefühlvolle Gesichtsausdruck waren unverwechselbar: Sie hielt eine Nachbildung ihrer selbst in der Hand, fein säuberlich in einen weißen Leinenkittel gekleidet. Ihre Gastgeberin kicherte schadenfroh.
    »Das ist ein Hobby von mir; Mami lässt mich mit einigen der gesunden Babys spielen, und nachdem sie sie weggegeben hat, kommen sie in meine Sammlung.« Die Gastgeberin strahlte sie an und goss ihr eine Tasse Tee ein. »Die habe ich selbst gemacht und sie Lily genannt, natürlich nach dir. Sag ihr guten Tag.«
    Vorsichtig setzte Lily die Puppe neben sich ab und drehte ihr Gesicht zur Wand. Etwas an ihren Glasaugen ging ihr auf die Nerven. Ein wenig verwirrt hob sie die Teetasse und nahm einen Schluck; dann verzog sie das Gesicht, weil sie sich die Zunge verbrannt hatte. Ihre Gastgeberin kicherte erneut.
    »Milch?«, fragte sie amüsiert.
    Lily lächelte dünn. »Nein, vielen Dank, Miss …?«
    »Cherubina«, lautete die Antwort. »Mami, also Oberin Angelina, hat heute viel zu tun, die vielen Vorbereitungen für das große Fest nächste Woche, und sie ist ja noch für einige andere Waisenhäuser in der Stadt verantwortlich, und dann wollen sie

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