Die Stadt der verkauften Traeume
zu. Dann können Sie mich festnehmen lassen oder was auch immer. Aber sagen Sie mir eines.« Lily ging zu Signora Sozinho hinüber, löste den Blick aber keine Sekunde von deren früherem Ehemann. »Sie sind der erfolgreichste Sänger von ganz Agora. Der Direktor selbst gibt neue Werke bei Ihnen in Auftrag. Sie müssen Heerscharen von Dienern haben, die ausnahmslos ihr Loblied singen. Wie ich höre, stehen die Frauen Schlange, um Ihnen vorgestellt zu werden. Also sagen Sie mir doch bitte, Signor Sozinho, warum haben Sie nicht wieder geheiratet?«
Der Signor richtete sich zu seiner vollen Größe auf, aber sein Gesicht schien plötzlich die ganze Last seiner Jahre zu tragen. Als er sprach, sprach die Stimme seiner Frau mit ihm, hallte in seiner Kehle nach.
»Mein Name entstammt einer alten Sprache. Er bedeutet so viel wie ›allein‹, und es hat den Anschein, als sei dieses Dasein tatsächlich mein Schicksal. Alle um mich herum haben sich als falsch und verlogen entpuppt.«
Das Rauschen von Röcken war zu hören, dann nahm Signora Sozinho seine Hand und sagte etwas mit stummen Lippen. Er sah sie verwirrt an. Benedikta schaute ihr auf den Mund und lächelte.
»Sie sagt: ›Es tut mir leid, carissimo. Ich dachte, dass du mich nicht kennst. Es scheint aber ganz so, als hätten wir dieselben Gedanken gehabt‹.«
»Vielleicht«, sagte der Signor und entzog sich ihr. »Aber jetzt ist es zu spät. Es gibt Wunden, die heilen nicht …«
»Warum nicht?«, fragte Lily, die vor Leidenschaft brannte. »Sehen Sie sich doch um, alle beide! Sehen Sie nicht Tausende von Menschen, die Diener haben, Zehntausende, die berühmt sind, eine Million Reiche? Jeder in dieser Stadt greift sich das, was er kriegen kann, und hält es fest. Nur Sie … Sie hatten etwas, das man gegen nichts eintauschen kann, etwas, das viel wertvoller ist als Stolz. Werfen Sie es nicht weg«, sagte sie mit einem letzten, erschöpften Seufzer, »denn das wäre völlig sinnlos.«
Die beiden sahen einander an. Sonst nichts. Lily fand Benediktas Blick. Das Mädchen lächelte nervös.
Dann schlug die Uhr vierundzwanzig.
Es war, als hätte die Welt innegehalten. Irgendwo fingen Leute an zu schreien, etwas von einer Prophezeiung, die sich erfüllt hätte. Lily nahm es kaum wahr, sie sah nur, wie Signor und Signora Sozinho näher zusammenrückten und sich schließlich bei den Händen hielten.
Beim letzten Schlag küssten sie sich. Ein eigenartiger Nebel schien sie zu umspielen. Als der Klang der Glocken verhallte, lösten sie sich voneinander, und die letzten Rauchfäden entflohen seinem Mund und schwebten in ihren.
»Carissimo …«, sagte Signora Sozinho.
Lily spürte aus dem tiefsten Innern eine unglaubliche Erleichterung. Äußerlich nahm sie gerade noch wahr, dass Benedikte voller Entzücken ihre Hand drückte. In der anderen hielt sie noch immer das Manuskript.
»Ich glaube, das gehört Ihnen, Signor. Tut mir leid, dass ich es Ihnen entreißen musste, aber …«
»Sieh dir das an, carissima«, sagte Signor Sozinho, nahm es Lily ab und reichte es Signora Sozinho. »Es ist die Melodie, die wir vor all den Jahren geschrieben haben.«
Signora Sozinho warf mit feuchten Augen einen Blick darauf; dann verzog sich ihr Mund zu einem traurigen Lächeln. »Wir haben es als Duett geschrieben …«, sagte sie mit immer noch recht zittriger Stimme.
»Erinnerst du dich noch daran?«, fragte Signor Sozinho leise.
Das Lächeln seiner Frau wurde noch breiter. »An jeden einzelnen Ton«, antwortete sie.
»Geh«, drängte er sie, »fang schon mal an. Auf dem Podium der Musiker. Ich schließe mich dir gleich an.«
Die Signora zögerte, strich mit der Hand über die Wange ihres ehemaligen Gatten, dann tanzte sie durch die Menge davon. Signor Sozinho sah ihr nach, und seine eigenen Jahre fielen von ihm ab. Dann wandte er sich Lily zu.
»Ich setze später selbstverständlich einen Vertrag auf. Aber für diesen Dienst sollst du einige unserer Instrumente haben, denke ich, und die Anklage wegen Diebstahls lasse ich natürlich fallen …«
Lily hob abwehrend die Hand. »Ich möchte nichts, Signor.«
Er sah sie verwundert an. »Nichts? Hat dich denn ein anderer angeheuert, das hier zu tun?«
»Nein, Sir. Sie müssen mir einfach nichts zurückzahlen.« Lily kämpfte um die richtigen Worte. »Es ist richtig … Es muss so sein, dass Sie beide zusammen sind. Das reicht mir schon.«
Signor Sozinho sah sie entgeistert an. »Nichts?«, wiederholte er.
Lily zuckte die
Weitere Kostenlose Bücher