Die Stadt der Wahrheit
intravenöse Nadel zu setzen, diesmal in den rechten Arm. »Ich glaube, diese Medizin taugt nichts. Mich friert.«
»Nun, Regenbogenjunge«, sagte sie, »die Xaviersche ist kein Spaß, ich wäre die letzte, die das leugnen wollte – aber du wirst wieder auf den Beinen sein und herumrennen, bevor du weißt, was geschehen ist.«
»Mein Kopf tut immer noch weh, und meine…«
»Wenn die eine Medizin nicht wirkt«, warf ich schnell ein, »dann gibt es immer noch eine andere, mit der wir es versuchen können – nicht wahr, Dr. Krakower?«
»Aber ja.«
Martina ergriff Tobys Hand und drückte sie fest, während Dr. Krakower die Nadel in seine Ader schob.
Toby wimmerte und fragte: »Sterben Kinder eigentlich jemals?«
»Das ist eine merkwürdige Frage, Regenbogenjunge«, sagte Dr. Krakower.
»Sterben sie?«
»Das kommt sehr, sehr selten vor.« Die Ärztin öffnete den Zulauf an Tobys Meperidin-Tropf.
»Sie meint niemals«, erklärte ich. »Denke nicht einmal daran, Toby. Das schadet nur deinem Immunsystem.«
»Er fühlt sich wirklich sehr kalt an«, sagte Martina, deren Hand noch immer von Tobys umklammert war. »Könnten wir die Heizung nicht etwas höher stellen?«
»Sie läuft auf vollen Touren«, sagte Dr. Krakower. »Seine elektrische Wärmedecke steht auf der höchsten Stufe.«
Das Narkotikum sickerte in Tobys Neuronen. »Ich friere«, sagte er benommen.
»Bald wird dir warm sein«, log ich. »Sag einfach: ›Schnapp sie, Mr. Medizin! Schnapp sie!‹«
»Schnapp sie, Mr. Medizin«, sagte Toby mit ersterbender Stimme. »Schnapp… schnapp… schnapp…«
Es war also höchste Zeit, ernst zu werden; es war höchste Zeit, daß Dornröschens Vater auch das allerletzte Spinnrad aufstöberte und es in Stücke hackte. Sobald Dr. Krakower aus dem Zimmer gegangen war, wandte ich mich an Martina und bat sie, eine Verbindung mit dem Präsidenten der Heilungs- und Erheiterungs-Runde für die Zukunft Tobys für mich herzustellen.
Anstatt meiner Bitte zu entsprechen, schnaubte Martina lediglich. »Jack, ich kann mich des Gefühls nicht ganz erwehren, daß du einer Niederlage zustrebst.«
»Was meinst du damit?«
»Eine Niederlage, Jack.«
»Was für ein Pessimismus! Weißt du nicht, daß die Psychoneuroimmunologie eine der Schlüsselwissenschaften unseres Zeitalters ist?«
»Sieh ihn dir doch nur an, Jack, verdammt noch mal! Sieh dir Toby an. Seine Lebensspanne ist nur noch geborgte Zeit. Das weißt du doch, nicht wahr?«
»Nein, das weiß ich nicht!« Ich warf ihr einen mörderischen Blick zu. »Selbst wenn die Zeit tatsächlich geborgt ist, bedeutet das nicht, daß es nicht die beste Zeit sein kann, die der Junge jemals erlebt hat.«
Sie gab mir die Information, die ich brauchte. Anthony Raines, Suite 42, Hotel Paradies.
Ich ging den Hang außerhalb des Zentrums für Schöpferisches Wohlbefinden hinauf und wählte die entsprechende Telefonnummer. Der Präsident von H.E.R.Z. nahm beim ersten Läuten ab.
»Jack Sperry?« japste er, nachdem ich mich vorgestellt hatte.
»Der Jack Sperry? Wirklich? Meine Güte, was für ein Zufall. Wir hatten gehofft, Sie würden uns ein Interview für die Toby Times gewähren.«
»Wofür?«
»Unsere erste Ausgabe erscheint morgen. Wir bringen Geschichten über die schöne Zeit, die Sie und Toby hier gehabt haben, über sein Lieblingsspielzeug und seine Lieblingssportart; wir berichten, welche Analgetika und Antibiotika er nimmt – all die Dinge, die unsere Mitglieder interessieren.«
Die Toby Times. Ich fand die Vorstellung gleichzeitig anregend und geschmacklos. »Mr. Raines, mein Sohn ist gerade erst ins Krankenhaus gekommen, und ich hatte gehofft…«
»Ich weiß – darum geht es in unserer Aufmacherstory. Ein Rückschlag, gewiß, doch kein Grund, die Hoffnung aufzugeben. Hören Sie zu, Jack – darf ich Sie Jack nennen? –, wir von H.E.R.Z. wissen, daß Sie auf dem richtigen Weg sind. Wenn Toby erst einmal mit dem kosmischen Puls im Einklang ist, wird sich sein Energiefeld wieder einrichten, und dann ist er über den Berg.«
Je länger Anthony Raines mit seiner ruhigen, ausgeglichenen Stimme sprach, desto besser ging es mir – und desto schärfer umrissen wurde meine Vorstellung von ihm: ein großer, unkonventioneller, goldhaariger Lebenskünstler mit strahlenden blauen Augen und einem hängenden, leicht liederlichen Schnauzbart.
»Mr. Raines, ich möchte gern Ihre Kräfte mobilisieren.«
»Nennen Sie mich Anthony. Worum geht’s?«
»Nur um das eine –
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