Die Stadt der Wahrheit
das Verlangen nach erotischen Abenteuern vergangen. Martina erhob keinen Protest; wie ich bedauerte sie unser Gerangel auf dem Billardtisch: Ehebruch war immerhin etwas Unrechtes – das wußte selbst ein Schwindler. Also hatten sich Martina und ich dieser umfassenden Bevölkerungsschicht zugesellt, deren Freundschaft die Grenze zum Beischlaf kaum einmal überschritten hatte, gefolgt von Verschanzungs- und Rückzugsmaßnahmen; wir unterhielten eine Beziehung, die sich nur ein einziges Mal in einem denkwürdigen Geschlechtsakt verdichtet hatte.
Meistens gingen wir drei zusammen in den Russischen Tee-Salon zum Abendessen. Das Personal war vernarrt in Toby; er bekam soviel Hamburgers, Hot dogs und Pommes frites, wie er nur essen konnte, und soviel Milchshakes, wie er nur trinken konnte. Niemand konnte behaupten, der Tee-Salon hätte nicht seinen Teil dazu beigetragen, Toby bei Laune zu halten, niemand konnte behaupten, man hätte ihn dort nicht in eine bekömmliche Stimmung versetzt. Der Geschäftsführer war ein dürrer, drahtiger, überschwenglicher Mann anfang Fünfzig namens Norbert Vore (augenscheinlich nahm er selbst seine ansetzende und kräftigende Kost nicht zu sich), und als er spürte, daß aus der Sicht des Jungen das Restaurant hinsichtlich des Nachtischs zu wünschen übrigließ, nahm er sich unverzüglich der Angelegenheit an und erlernte die Zubereitung von Erdbeerkuchen und köstlicher Zitronen-Meringen-Torte. Norberts Baisers, sein Fondant-Nußkuchen und die Kirschtorte ließen Toby von einem Ohr zum anderen strahlen. Seine Schokoladenparfaits waren so luftig und erhebend, daß sie an sich schon ein Heilmittel zu sein schienen.
Es geschah im Russischen Tee-Salon, daß Toby und ich zum erstenmal eine seltsame Eigenart bei den Satirevianern bemerkten. Etwa ein Viertel von ihnen trug Sweatshirts mit einem aufgedruckten valentinsartigen Herz, das über den Großbuchstaben H.E.R.Z. schwebte. »H.E.R.Z., was soll das bedeuten?« fragte mein Sohn eines Abends Martina, während wir uns über eine besonders köstliche Eiscreme-Kreation hermachten – ein Gebilde, dem Norbert den Namen ›Wonnemond‹ gegeben hatte.
»Das ist so etwas wie ein Club – die Mitglieder kommen zusammen und reden über Philosophie. Weißt du, was Philosophie ist, Toby?«
»Nein.«
»Das H steht für Heiterkeit, das E für Einheit.«
»Und das R, und das Z?« wollte Toby wissen.
»Realität und Zukunft.«
H.E.R.Z. Das war, so erklärte Martina, nachdem Toby zu Bett gegangen war, eine Organisation, die die Ganzjährigen gegründet hatten, und zwar – so stellte sie es dar – um des ›Denkens guter Gedanken über deinen Sohn und damit der Beschleunigung seiner Heilung‹ willen. H.E.R.Z., die Heilungs- und Erheiterungs-Runde für die Zukunft Tobys. Sie trafen sich jeden Dienstagabend. Sie trugen sich mit der Absicht, ein Mitteilungsblatt herauszugeben.
Noch nie in meinem Leben war ich so tief bewegt, so gerührt gewesen. Meine Seele sang, meine Kehle wurde hart wie ein Holzapfel. »Martina, das ist ungeheuerlich. Warum hast du mir bis jetzt nichts von H.E.R.Z. erzählt?«
»Weil ich dabei eine Gänsehaut bekomme.«
»Eine Gänsehaut?«
»Dein Sohn ist krank, Jack. Krank. Er braucht mehr als H.E.R.Z. Er braucht… nun, ein Wunder.«
»H.E.R.Z. ist ein Wunder, Martina. Verstehst du das nicht? Es ist ein Wunder.«
Es gibt nichts annähernd so Aufregendes wie das Zusammensein eines Großteils der Zeit mit dem eigenen Kind, und nichts annähernd so Langweiliges. Ich werde ehrlich sein: Als Martina anbot, mich für eine Stunde oder zwei von Toby zu erlösen – sie wollte ihm helfen, Musterexemplare für seinen Miniaturzoo zu finden –, bat ich sie, den ganzen Tag mit ihm zu verbringen. Selbst der Vater von Dornröschen, davon bin ich überzeugt, würde ihrer gelegentlich überdrüssig.
Es war eine Stunde nach seiner gewöhnlichen Schlafengehenszeit, als Toby zum Paradies zurückkehrte, beladen mit der Ausbeute des Tages – einem Dutzend Flaschen und Käfigen voller gummiartiger Molche, klebriger Salamander, stachliger Tausendfüßler und verstimmter Laubfrösche, deren Gequake sich wie Fahrradklingeln anhörte.
Ich brachte es nicht fertig, mich an ihnen zu erfreuen.
»Dad, ich fühle mich nicht so gut«, sagte er, während er die verschiedenen Terrarien auf dem Couchtischchen abstellte.
»Ach?« Jetzt geht es also los, dachte ich. Das ist der Anfang. »Was heißt das?«
»Der Kopf tut mir weh.« Toby drückte sich
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