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Die Stadt der Wahrheit

Die Stadt der Wahrheit

Titel: Die Stadt der Wahrheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Morrow
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die Hände vor den Leib. »Und mein Bauch. Sind das diese Bakterien, Dad?«
    »Denke immer daran, letzten Endes können sie dir nichts anhaben.«
    »Wegen meines Immunsystems?«
    »Kluger Junge.«
    Toby wachte während der Nacht immer wieder auf, seine Temperatur schnellte bis auf 39 Grad hoch; sein Fleisch bebte, die Knochen klapperten, die Zähne schlugen aufeinander. Er schwitzte wie ein Geldnotenpflücker in den Plantagen. Viermal mußte ich sein Bettzeug wechseln. Es stank nach Salzlake.
    »Ich glaube, wir statten morgen mal dem Krankenhaus einen Besuch ab«, sagte ich.
    »Krankenhaus? Ich dachte, mir fehlt nichts Ernstes.«
    »Dir fehlt nichts Ernstes.« Oh, diese Macht, die Macht! »Dr. Krakower will dir nur eine Arznei geben, das ist alles.«
    »Ich glaube, ich kann nicht schlafen, Dad. Liest du mir etwas vor, von Rumpelstilzchen oder Piraten oder so was?«
    »Natürlich. Klar. Bleib nur fröhlich, dann geht es dir bald wieder gut.«
    Am nächsten Morgen ging ich mit Toby ins Zentrum für Schöpferisches Wohlbefinden, wo ihm ein Platz auf der Kinderstation zugewiesen wurde, ein großes Privatzimmer, das sich trotz seiner Geräumigkeit schnell mit der Krankheit meines Sohnes anzufüllen schien, einer kranken, fahlen Ausstrahlung, die vom Bettrahmen ausging, den Nachttisch bedeckte und die hochklappbare Elternliege in der gegenüberliegenden Ecke einhüllte. Seine Haut wurde immer blauer; seine Temperatur stieg: 39; 39,5; 40; 40,5 Grad. Gegen Abend waren die Lymphknoten unter seinen Armen bis auf die Größe von verknöcherten Trauben angewachsen.
    »Wir können das Fieber mit Azetamonophen und Alkoholbädern senken«, sagte Dr. Krakower, während sie mich in ihr Büro führte. »Und ich glaube, wir sollten ihm Pentamidin verabreichen. Es ist bekannt dafür, daß es gegen Pneumocystis carinii Wunder wirkt.«
    »Echte Wunder?«
    »O ja. Wir sollten ihn besser auf intravenöse Ernährung umstellen. Ich möchte es außerdem mit reinem Sauerstoff versuchen, vielleicht mittels eines Inhalators. Das wird seinen Geist klar halten.«
    »Frau Doktor, wenn er dem Tod nicht entkommt…«
    »Wir sollten so etwas nicht sagen.«
    »Wenn er dem Tod nicht entkommt, wie lange wird er dann noch leben?«
    »Ich weiß es nicht.«
    »Zwei Wochen?«
    »O ja, zwei Wochen bestimmt, Jack. Zwei Wochen kann ich Ihnen praktisch versprechen.«
    Obwohl Martinas Job des Redenschreibens für die Bezirksabgeordnete Doreen Hutter sie jeden Morgen voll beschäftigte, richtete sie es so ein, daß sie die Nachmittage an Tobys Bett verbringen konnte, um ihm glückliche Gedanken einzugeben. Sie legte ihm nahe sich vorzustellen, daß er allmählich in den Zustand des Scheintods überging, damit er die Voraussetzung hätte, als erster Junge in einem Raumschiff über unser Sonnensystem hinausbefördert zu werden: deshalb drückte und weitete der Inhalator seine Brust, um seine Lunge auf die interstellare Reise vorzubereiten; deshalb führte das Plastikröhrchen in seinen linken Arm, um ihn mit ausreichenden Nährstoffen für den Winterschlaf zu versorgen; deshalb die Plastikmaske – die Sauerstoffzufuhr für den Raketenreisenden –, die ihm über Mund und Nase gebunden war.
    »Wenn du wieder aufwachst, Toby, wirst du dich auf einem anderen Planeten befinden – in der Zauberwelt von Lulalun!«
    »Lulalun?« Durch die Sauerstoffmaske hörte er sich weit entfernt an, als ob er bereits im All wäre. »Ist es dort so gut wie in Satirev?«
    »Besser.«
    »So gut wie im Sommerlager?«
    »Doppelt so gut.«
    Toby streckte die Hand aus und bewirkte ein Verzwirbeln seiner Traubenzuckerzuleitung, wodurch der Fluß dessen, was Martina ihm gegenüber als flüssige Pommes frites dargestellt hatte, unterbrochen war. »Mir gefallen deine Spiele«, sagte er.
    Ich streichelte meinem Sohn den immer kahler werdenden Kopf. »Wie gut funktioniert deine Phantasie?« fragte ich ihn.
    »Ziemlich gut, nehme ich an.«
    »Kannst du dir vorstellen, daß Mr. Medizin sich diese häßlichen alten Xavierschen Viren schnappt?«
    »Klar.«
    »Schnapp sie, Mr. Medizin. Schnapp sie und mach sie fertig! Richtig so, Toby?«
    »Richtig«, ächzte er.
    Eine Woche lang blieb Toby einigermaßen vergnügt, doch dann überfiel ihn ein seltsamer veritasianischer Trübsinn und verdunkelte seine Stimmung ebenso erbarmungslos, wie die Pneumocystis carinii seine Lungenflügel verdunkelte. »Mir ist nicht gut«, sagte er eines Nachmittags zu Dr. Krakower, als diese Anstalten traf, ihm eine zweite

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