Die Stadt der Wahrheit
was, Kumpel? Du bist so richtig fröhlich.«
»Ja, ja«, sagte er in gelassenem Ton.
»Was gefällt dir besonders gut? Die Schneemänner?«
»Die Schneemänner sind toll.«
»Und das Angeln?«
»Angeln gefällt mir.« Toby stellte seinen Stiefel auf die linke Kieme des Gürteltiers und zog ihm den Haken aus dem Mund.
»Und unsere Bogenschießübungen gefallen dir doch auch, oder nicht?« Ich bewunderte die Beschaffenheit des Gürteltiers – seinen rhombenförmigen Körper, die schlanken Schuppen, die dynamischen Flossen. »Und das Schwimmen?«
»A-ha. Ich wünschte, Mom wäre hier.«
Ich bestückte meinen Haken mit einer satirevianischen Schnecke als Köder. »Ich auch. Was gefällt dir noch?«
»Ich weiß nicht.« In einem krampfartigen Anfall von Gnade warf er das Gürteltier über Bord. »Mir gefällt die Art, wie Fremde mir Bonbons schenken.«
»Und das Angeln gefällt dir auch, stimmt’s?«
»Das habe ich schon gesagt«, erwiderte Toby geduldig. »Dad, warum fallen mir die Haare aus?«
»W-wie bitte?«
»Meine Haare. Und meine Haut sieht auch so komisch aus.«
Ich erschauderte und riß mir mit dem Angelhaken den Daumen auf. »Kumpel, es gibt etwas, über das wir reden sollten. Erinnerst du dich an die Blutprobe, die Dr. Krakower von dir genommen hat? Es scheint, als hättest du einige Bakterien in dir. Nichts Ernstes – man nennt es die Xaviersche Seuche.«
»Wessen Seuche?«
»Xaviers.«
»Wie kommt es dann, daß ich sie bekommen habe?«
»Viele Menschen bekommen sie.«
Toby spießte eine Schnecke auf seinen Angelhaken. »Ist das der Grund, warum meine Haare…?«
»Wahrscheinlich. Vielleicht mußt du eine Medizin bekommen. Du bist nicht richtig krank.« O Gott, wie ich mich freute, das sagen zu können. Welche Macht! »Es ist jetzt wichtig, daß du guter Dinge bleibst. Du mußt dir einfach selbst sagen: ›Diese blöden alten Xavierschen Bakterien können mir nichts anhaben. Mein Immunsystem ist zu kräftig.‹«
»Mein was?«
»Immunsystem. Sag es, Toby. Sage: ›Diese blöden alten Xavierschen Bakterien können mir nichts anhaben.‹ Los!«
»Diese blöden alten Xavierschen Bakterien können mir nichts anhaben«, wiederholte er zögernd. »Stimmt das, Dad?«
»Worauf du dich verlassen kannst. Du hast doch keine Angst, oder?«
Toby rieb sich die blaue Stirn. »Ich glaube nicht.«
»So ist es recht, Kumpel.«
Wenn mein Sohn nicht zu alt war für Plüschtiere, dann war er auch nicht zu alt für Gutenachtgeschichten. Wir lasen jeden Abend zusammen, eingekuschelt in das weiche, schmeichelnde Bettzeug und die glatten Baumwolldecken des Paradies, und arbeiteten uns durch einen Stapel von Büchern, die irgendwie der Wittgensteinschen Säuberungswut entgangen waren – Tom Sawyer, Die Schatzinsel, Corbeau der Pirat und als bestes von allem die prachtvolle Ausgabe einer Märchensammlung, mit Ledereinband und Goldschnitt. Beim Lesen der Gebrüder Grimm zitterte ich nicht nur wegen der Erregung über den Genuß verbotener Früchte – wie wagemutig ich mir vorkam bei der Beschäftigung mit Material, das ich normalerweise nur als Vorspiel zur Verbrennung las –, sondern auch wegen der eigenartigen Unmoral und der psychosexuellen Einblicke, die die Geschichten selbst boten. Tobys Lieblingsmärchen war Rumpelstilzchen, das erstaunlicherweise das Verlangen eines alten Mannes nach einem Baby zum Thema hatte. Mein Favorit hingegen war Dornröschen. Ich identifizierte mich vollkommen mit dem Vater – mit seiner wahnwitzigen, herodesartigen Unternehmung, jedes Spinnrad im ganzen Königreich zu vernichten. Für mich war er ein Held.
»Warum wollte Rumpelstilzchen unbedingt ein Baby?« fragte Toby.
»Es gibt nichts Schöneres als ein Baby«, antwortete ich und hatte dabei das Gefühl, die Wahrheit zu sagen. »Rumpelstilzchen wußte, was er brauchte.«
Wann immer Martina in Satirev war, unternahm sie gemeinsam mit uns Ausflüge – zum Wandern, Schwimmen, Angeln, Käfersammeln –, und ich war mir nicht ganz schlüssig darüber, was Toby von ihr hielt. Sie kamen bestens miteinander aus, selbst in bezug auf ganz persönliche zweideutige Späße über Barnabas Pavian, doch gelegentlich entdeckte ich ein aufflackerndes Unbehagen in den Augen meines Sohnes. Wenn er ein bereits gebranntes Kind wäre, hätte er sich natürlich ganz offen geäußert. Dad, ist Martina deine Geliebte? Dad, schläfst du mit Martina?
Worauf die wahrheitsgemäße Antwort gelautet hätte: nein. Seit Tobys Ankunft war mir
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