Die Stadt des roten Todes - Das Mädchen mit der Maske: Roman (German Edition)
Wohnungen hier müssen sehr viel kleiner sein als die Penthouse-Apartments. Vorsichtig drücke ich jede Klinke herunter, um die Bewohner nicht zu alarmieren, doch am Ende des Flurs stoße ich gegen einen Stuhl, der wahrscheinlich den Kurieren gehört. Er scharrt lautstark über den Boden und prallt gegen die Wand.
»Wer ist da?«, höre ich jemanden in der nächstgelegenen Wohnung rufen.
In diesem Augenblick geht eine Tür auf. Eigentlich habe ich erwartet, einen Dienstboten oder eine Familie zu sehen, stattdessen stehen mehrere junge Männer in Militäruniform vor mir.
»Was haben Sie hier zu suchen?«, fragt einer und streckt die Hand nach mir aus. Ich weiche zurück. Vielleicht hat er mich mit jemandem verwechselt, jedenfalls besteht kein Zweifel daran, dass ich nicht hierher gehöre. Eine zweite Tür wird geöffnet, hinter der ein älterer Mann, ebenfalls ein Soldat, zum Vorschein kommt.
»Haltet sie auf«, sagt er.
Weitere Türen gehen auf. Die Uniformierten behaupten, sie stünden in Diensten von Prinz Prospero. Wieso hat er so viele Männer in diesem Stockwerk unter unserem postiert? Ich bemerke eine Anstecknadel am Revers des älteren Mannes. Hätte ich nicht so viel Zeit mit April verbracht und gelernt, auf Details zu achten, hätte ich sie bestimmt übersehen. Sie stellt ein offenes Auge dar.
Ich halte ihm die Nachricht hin, als wäre sie meine Rettung.
» Komm um Mitternacht in den Garten«, liest er laut vor.
Mehrere bunte Orden prangen auf seiner Uniform, deshalb gehe ich davon aus, dass er das Kommando hat. Keiner der Soldaten sieht aus wie die Männer mit den harten, grausamen Augen, die die hungrigen Kinder aus der Oberstadt fernhalten, dafür starrt der Mann mich an, als wäre ich nicht ganz bei Trost. Dann richtet sich sein Blick wieder auf den Zettel. Und diesmal bemerkt er das dünne Bleistift-Auge in der unteren Ecke des Blatts.
»Lasst sie durch«, sagt er und verbeugt sich. »Viel Spaß im Garten.«
Er sieht sich auf dem Gang um. »Stellt euch schon mal darauf ein, morgen irgendwo hinzuziehen, wo es nicht ganz so luxuriös ist.« Selbst im Halbdunkel scheinen seine Leute seine Miene zu erkennen und ziehen sich in die Wohnungen zurück.
»Die letzte Tür rechts«, sagt er zu mir, als er merkt, dass ich mich nicht vom Fleck gerührt habe.
Der Türknauf lässt sich problemlos drehen. Ich öffne die Tür und schlüpfe hindurch, heilfroh, nicht länger den prüfenden Blicken der Männer ausgesetzt zu sein. Meine Mutter hat mich gewarnt, mich nie allein mit einem Mann in einem dunklen Korridor, einer unbeleuchteten Seitengasse oder einem verlassenen Zimmer aufzuhalten. Ich seufze. Ihre Zeiten mit Anstandsdamen und jungen Mädchen, denen die Sinne schwinden, mögen längst Vergangenheit sein, trotzdem jagen mir ihre Warnungen immer noch Angst ein.
Ich erkenne auf Anhieb, dass der Raum nicht groß ist, dennoch bleibe ich eine halbe Ewigkeit reglos stehen, bis sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnt haben. Es ist eine Besenkammer mit Eimern, Mopps und einer Leiter, die an der hinteren Wand hängt. Ich halte die Luft an. Sie hat genau die richtige Höhe, um in den Garten zu gelangen.
An der Decke befinden sich Seilwinden und Antriebskurbeln. Ich durchquere den Raum, lege eine Hand auf eine Sprosse und stelle mich mit beiden Füßen darauf. Meine eleganten Schuhe bieten mir keinerlei Halt, und als ich auf halber Höhe angekommen bin, sind meine Handflächen schweißfeucht.
Am oberen Ende der Leiter befindet sich eine große, runde Messingluke. Ich drücke dagegen. Sie öffnet sich mit einem lauten Knarzen. Lose Erde rieselt herunter und landet auf meiner Wange. Wie es aussieht, ist mein Garten Eden also doch nicht hermetisch verriegelt.
Ich spüre zuerst Erde, dann Gras. Die Luft ist nicht so tropisch, wie ich anhand des Kondenswassers gedacht hätte, das an den Fenstern meines Zimmers herabläuft. Sie ist schwül, aber erträglich.
Ein dünner Zweig klatscht mir ins Gesicht. Ich unterdrücke einen Schrei. Statt der vertrauten Finsternis des Korridors umgibt mich nun eine fremde Finsternis, die nach Natur und Pflanzen riecht. Ich spüre, wie Ranken mein Gesicht und meine Knöchel streifen.
Meine Schuhe machen ein schmatzendes Geräusch im Schlamm. Ich bleibe stehen und lausche angestrengt.
Ich höre, wie jemand ein Streichholz anzündet, und blinzle, als die orange Flamme vor meinen Augen aufflackert. Jemand steht direkt vor mir. Ein stechender Geruch steigt mir in die Nase. Tabak?
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