Die Stadt des roten Todes - Das Mädchen mit der Maske: Roman (German Edition)
ausgeschlossen, dass die Keime überall hin vorgedrungen sind. In Wahrheit ist es sogar möglich, dass wir die Keime weiter in die Welt hinaustragen, an Orte, wo sie bisher noch nicht hingekommen sind.«
»Wir könnten den Leuten doch Masken geben. Die Fabrik wurde zerstört, aber wir wissen doch trotzdem, wie sie hergestellt werden.«
»Wir haben sie ja nicht mal unserer eigenen Bevölkerung kostenlos zur Verfügung gestellt. Weshalb sollte unser großzügiger Prinz sie ausgerechnet Fremden schenken?«
Die Wachleute sind zu weit entfernt, um Vaters ketzerische Worte mitzubekommen.
Aus dem Augenwinkel bemerke ich einen Jungen, der auf der Piermauer sitzt, die Beine baumeln lässt und das Dampfschiff betrachtet. Er ist so trist und farblos gekleidet, dass er in der graubraunen Eintönigkeit des verrottenden Piers kaum auffällt. Ich trete auf ihn zu und halte ihm den Apfel hin.
Einen Moment lang starrt mich der Junge an. Im Gegensatz zu den Kindern auf dem Markt setzt er uns und unsere Wachen nicht automatisch mit kostenlosem Essen gleich. Im ersten Moment macht er keine Anstalten, die Hand auszustrecken. Stattdessen starrt er sekundenlang den Apfel an, ehe er ihn mir mit einer blitzschnellen Bewegung aus der Hand reißt. Dann sitzt er da und hält ihn fest wie einen kostbaren Schatz.
Lautes Trampeln lässt uns vor Schreck zusammenzucken, und als wir uns umwenden, sehen wir einen Mann in einer braunen Kutte den Pier entlanglaufen. »Die Wissenschaft wird uns alle zerstören!«, schreit er, als er merkt, dass wir zu ihm hinübersehen, reißt seinen Umhang zurück und entblößt mehrere blutende Wunden und leuchtend violette Male. Er hebt die Hand, in deren Fläche eine schwarze Sense eintätowiert ist.
Ich packe Vater am Arm, als einer der Wachmänner sich vor uns wirft. Die anderen Wachleute nähern sich vorsichtig. Keiner von ihnen will mit dem Mann in Berührung kommen.
Verblüfft starre ich ihn an. Sein Umhang ist zu kurz, um zu verbergen, wie weit die Krankheit bereits fortgeschritten ist. Er müsste längst tot sein.
Sein unmaskiertes Gesicht ist hassverzerrt. Die Wachen rammen ihm die Läufe ihrer Musketen ins Gesicht, sorgsam darauf bedacht, jeden direkten Körperkontakt mit ihm zu meiden. Ich rücke meine Maske gerade, um ganz sicher zu sein, dass ich nicht dieselbe verpestete Luft einatme wie dieser dem Tode Geweihte. Und ich beobachte, dass die Wachen es mir nachtun. Sie stoßen ihn fort, weg von uns. Er starrt Vater finster an, und ich erwarte halb, dass er sich jeden Moment auf uns stürzt, doch er murmelt nur: »Die Wissenschaft hat versagt.« Seine Stimme ist so leise und traurig, dass wir ihn kaum hören können. Und dann haben die Wachen ihn vollends eingekreist und führen ihn weg.
»Tut ihm nicht weh«, ruft Vater ihnen hinterher.
»Natürlich nicht, Dr. Worth.«
Vater und ich tun so, als hätten wir den Schuss, der hinter dem Haus ertönt, nicht gehört.
»Es wird bald regnen«, stellt der Wachmann fest, der bei uns geblieben ist.
Inzwischen haben die tosenden Wellen dieselbe dunkelgraue Färbung angenommen wie der wolkenverhangene Himmel.
Wir machen uns auf den Heimweg.
»Er hatte die Krankheit«, sage ich leise.
»Ja«, bestätigt Vater. »Manche von ihnen leben länger als andere.«
Ich erschaudere.
Der Wachmann hatte recht. Es beginnt zu regnen. Ich denke daran, wie eilig Vater die Buchhandlung verlassen hat. Ich könnte ihn fragen, ob er irgendetwas tut, das uns in Gefahr bringt. Aber vielleicht würde er mir dann genau dieselbe Frage stellen. Schweigend kehren wir zu den Akkadian Towers zurück. Das einzige Geräusch ist das Platschen der Regentropfen, die auf den Bürgersteig fallen.
E LF
D er Türsteher verbeugt sich und tritt beiseite, um uns in die üppig verzierte Lobby der Akkadian Towers treten zu lassen, als ich auf der anderen Straßenseite eine Bewegung registriere. Instinktiv trete ich näher zu Vater. Doch die Bewegungen haben etwas Vertrautes. Es ist Will. Mein Herzschlag setzt aus.
Ich frage mich, wie ich es schaffen soll, mich von Vater und den Wachen loszueisen. Aber es ist fast dunkel, und Will muss in den Debauchery Club, deshalb bleibt mir keine Zeit, nach oben zu gehen und mich später wieder herunterzuschleichen.
Ehe ich mir eine Strategie zurechtlegen kann, haben die Wachen mich ins Gebäude geschoben. Dann setzen sie sich auf ihre Plätze, und einer zieht ein Kartenspiel heraus.
Ich berühre Vater am Arm. »Ich will noch ein paar Minuten hier
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