Die Stadt im Spiegel: Roman (German Edition)
verlieren, sah auf ihre Uhr und sagte, dass die Besuchszeit eine Viertelstunde beträgt. Aber auch das kann viel sein, wenn man sich nichts zu sagen hat und einander keinerlei Rechenschaft schuldig ist. Ich gab ihr das Geschenk, und als sie sah, was sich in der Tüte befand, atmete sie freudig auf. »Konntest du denn etwa den Tabak einfach so einführen?«, fragte sie und steckte die Nase in das Papier, sichtlich beglückt vom Duft dieses »gelben Goldes« aus dem Wald von Popovo, sie genoss den Geruch dieses milden aromatisch-feuchten Tabaks, mehrmals atmete sie ihn ein, als sei dies ein geheimnisvolles Zaubermittel, mit dem man die Seele heilen kann. »Es gibt nichts anderes, was mir eine solche Freude gemacht hätte«, sagte sie.
Meine Tante trug Gefängniskleidung aus grobem Stoff, ihr Gesicht war älter geworden, sie hatte Falten um die Augen bekommen, die sich auch zu den Schläfen zogen. Ihre Haare waren kurz geschnitten, sie wirkte aber nicht so verwahrlost wie bei unserem letzten Treffen. Wir setzten uns auf alte zerrissene Sessel, zwischen uns stand ein kleiner runder Glastisch. Die Sonne schien von oben durch ein kleines schmales Fensterchen zu uns herunter und auf die Hände meiner Tante. Staub zog sich durch den Lichtkegel, wir saßen ohne Aufsicht beisammen. Sie zeigte mir einen Schlüssel, sagte, das Zimmer gehöre ihr, es sei im Grunde ihr eheliches Schlafzimmer, denn hier treffe sie sich mit ihrem Mann, einem Gefängniswächter, mit dem sie in ihrem fortgeschrittenen Alter endlich die wahre wärmende Liebe kennengelernt habe. Das Gefängnis sei nicht mehr und nicht weniger als ihre Rettung geworden, ihr »Liebestempel«, ein Ort der Freude. Es sei alles in jener Zeit geschehen, in der sie zu Gott gebetet habe, nicht zu streng mit ihr umzugehen, sie keines schweren Todes sterben zu lassen und seinen Sündern nicht noch mehr Schmerzen und Leiden zuzufügen. Sie sagte, dass sie überhaupt nicht gewusst habe, was Liebe sei, sie habe auch nicht ahnen können, dass es ein so großes und erhebendes Gefühl auf Erden gebe, denn ihre Erfahrung habe ihr gezeigt, dass das nur Geschwätz sei, Geschichten, »mit denen wir unsere langweiligen Leben einfärben«. Zum ersten Mal seitdem wir uns kannten fragte sie mich nach meiner Mutter, hier in dieser Gefängniszelle. Es wirkte ehrlich, mitfühlend oder, wie man das früher bei uns ausgedrückt hat, mit der Anteilnahme ihrer Seele: »Wie geht es deiner Mutter? Wie geht es meiner Schwester? Hast du vielleicht ein kleines Foto von ihr dabei, wie gerne wüsste ich, wie sie aussieht! Wo lebt sie denn jetzt?«, fragte sie. Als ich gerade anfangen wollte, etwas über meine Mutter zu erzählen, über sie und über unsere Familie, sah Tante Pava auf die Uhr und sagte, die Besuchszeit sei zu Ende. Ich blieb noch im Sessel sitzen, schob mit dem Finger die Manschette vom Hemd weg und sah auf mein linkes Handgelenk, jene Stelle, an der ihre Uhr sonst zu sehen gewesen war. »Sie haben mir die Uhr abgenommen«, sagte ich. »Ich weiß«, sagte sie. »All diese Uhren habe ich mir anständig verdient, aber Ehre und Gutmütigkeit stehen nicht mehr hoch im Kurs«, sagte sie. »Alles, was ich erreicht und besessen habe, das habe ich von den Menschen geschenkt bekommen, die glücklich über das waren, was ich für sie getan habe.«
Sie ging zur Tür und öffnete sie. Bevor der Wächter sie abführen konnte, sagte meine Tante mit trocken bitterer Stimme, dass ich nicht mehr zu kommen brauche. Sie schlug die Tür zu und ich blieb im Zimmerchen zurück. Der Wächter, der mich schließlich über den langen Flur begleitete, war schweigsam, sagte nichts, bis wir zum Eisengitter kamen, er schloss es auf, lehnte es ein wenig an, gerade so, dass ich hindurchschlüpfen konnte, dann wollte er ein bisschen mit mir reden und sagte vertraulich flüsternd, dass meine Tante »eine besondere Frau und eine Märtyrerin« sei. Man habe ihr nur alles untergeschoben, um an ihr Vermögen heranzukommen. Ich aber hatte keine Lust, hinter den Gittern zu stehen und einem Fremden zuzuhören, winkte unwirsch mit der Hand ab, womit ich ihn sicher kränkte. Aber was hätte ich auch von ihm noch erfahren können? Alles war ja schon gesagt. Das Kapitel mit meiner Tante war ohnehin schon abgeschlossen. Vorsichtig stieg ich die Steinstufen hinab und hielt mich dabei an den Eisengriffen fest, die Treppen waren glatt und rutschig, man konnte kaum auftreten, ohne dabei die Gefahr eines Sturzes vor Augen zu haben,
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