Die Stadt im Spiegel: Roman (German Edition)
ständig hatte ich das Bild hinfallender Menschen vor mir, die diese Stufen mit ihren millionenfach gesetzten Schritten geglättet hatten, dachte an all die Mörder, Diebe, Deserteure, Betrüger, Hochstapler, Politiker, Gendarmen und Wächter, die sie Schritt für Schritt geschliffen hatten, als sie hier ihre Angst auf ihrem Weg mit sich nach unten trugen; vielleicht hatte ich mich deshalb gleich am Geländer festgehalten.
Der Besuch bei meiner Tante war alles andere als angenehm, aber ich habe es nie bereut, dass ich sie dort gesehen habe. Ich hatte keinerlei Mitgefühl für sie aufbringen können, bezweifelte auch, ob diese Frau überhaupt annähernd wusste, was Leiden war, ihrem ganzen Kummer und den Entbehrungen im Gefängnis zum Trotz. Auch ihr Glück war mir vollkommen unverständlich; ob die Liebesgeschichte mit dem Gefängniswärter auf ihre alten Tage tatsächlich stimmte, habe ich nie herausgefunden, denn ich hörte nie wieder etwas von ihr und tat auch später nichts, um irgendetwas über sie in Erfahrung zu bringen. Über diesen Abschnitt meines Lebens habe ich sehr selten etwas erzählt, sogar meine Mutter schnitt mir einmal das Wort ab, als ich anfing, meine Erlebnisse mit Tante Pava wiederzugeben. »Erzähl mir nichts, das ich längst dem Vergessen überantwortet habe, und verlang nicht von mir, dass ich das, was ich nicht hören will, jetzt von dir höre«, sagte sie. Als vor langer Zeit ihre andere Schwester, Ruža, die nach Cetinje geheiratet hatte, manchmal zu Besuch gekommen war oder auch mal unangekündigt in unserem Geschäft gestanden hatte, brachte Mutter sie immer zum Schweigen. Sobald Ruža über die anderen Schwestern Pava und Ivka reden wollte, wurde meine Mutter richtig böse auf sie, hatte keinerlei Mitgefühl mit ihr, sagte mehrmals, dass unfruchtbare Frauen Gott ein Dorn im Auge waren. Das war grob von ihr, ich wurde still und traurig, denn das Gesicht von Tante Ruža sah tief gekränkt aus. Zärtlich wischte ich die Tränen von ihren geröteten Wangen.
63
Ich fuhr nach N., um meinen Vater nach sechs Jahren zum ersten Mal wiederzusehen, man hatte ihn in ein Sanatorium eingeliefert. Nach dem ersten Vorfall hatte er bereits zehn Monate dort verbracht. Dann wurde er nach Hause geschickt. Man sagte ihm, er sei geheilt. Aber nur kurze Zeit später öffnete sich das Kavernom wieder, er spuckte erneut Blut und man brachte ihn ins Krankenhaus. Die letzten zwei Jahre hatte er ohne Unterbrechung im Sanatorium verbracht. Man erfüllte ihm nicht den Wunsch, noch einmal seine Freunde zu sehen, die ihn langsam, aber sicher alle vergaßen. Meine Mutter ließ jedoch nicht einen Sonntag in diesen zwei Jahren vergehen, ohne ihm einen Besuch abzustatten, kein Wetter konnte sie davon abhalten, weder eisiger Schneefall noch die heftigsten Stürme, aber auch die stechende Hitze im Sommer war kein Hindernis für sie. In der Regel nahm sie den alten wackeligen Bus, in dem nur noch ein paar Sitze übrig geblieben waren, und wenn es zu viele Reisende gab, dann musste sie bis zum Sanatorium stehend ausharren. Dieser Bus war nach den Dreharbeiten zum Film »Der Fluch des Geldes« vom Set übrig geblieben. Es war ein altes schrottreifes Gefährt, das keiner mehr gebrauchen konnte. Der Fahrer der Filmcrew war ein Ortsansässiger, er reparierte den heruntergekommenen Bus und richtete eine Linie zum Sanatorium ein, er fuhr jeden Sonntag, die Stadtverwaltung war genauso erfreut wie das Krankenhaus. Der Bus fuhr früh am Morgen los, es gab keine festen Regeln und auch keine vorab angekündigten Haltestellen, aber er schaffte es dennoch, alle Reisenden einzusammeln, die sich untereinander kannten, es sprach sich schnell herum, und die Mitfahrenden wuchsen immer mehr zu einer Art Busfamilie zusammen. Sie wussten alles übereinander, erzählten sich, was sie gerade gekocht hatten und was sie in ihren Taschen zu den Kranken trugen, die sich nach Hausmannskost sehnten. Aber auch alle anderen Vorkommnisse in den Familien waren bekannt, man wusste untereinander auch immer, was gerade mit den Kindern los war. Der Bus fuhr am späten Nachmittag zurück, sie hatten also nicht nur genug Zeit, um ihre Nächsten zu besuchen, sie konnten auch neue Bekanntschaften machen. Neue Freundschaften wurden geschlossen, sie erweiterten ihren kleinen brüderlichen Freundeskreis, in dem auch meine Mutter Trost und Zuflucht fand. Der Besuchssonntag war von einer Innigkeit gezeichnet, die neu in ihrem eigenbrötlerischen Alltag war, ein
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