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Die Stadt - Roman

Titel: Die Stadt - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Brandhorst
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neu.«

    Sie nickte Benjamin zu. Hinter ihr schloss sich die Tür mit einem leisen Klicken.
    »Wie ist es dir ergangen?«, fragte Velazquez, nachdem er ein oder zwei Minuten lang schwer geatmet hatte.
    Benjamin nahm auf dem wackligen Stuhl Platz, auf dem eben noch die Apothekerin gesessen hatte. »Ein Schuss in den rechten Arm, dicht bei der Schulter. Die Kugel kam von ganz allein heraus. Ich nehme an, das ist auch bei dir passiert.«
    »Ich habe keine Ahnung, was passiert ist«, sagte Velazquez leise. Schweiß stand auf seiner Stirn, aber er zitterte unter dem Laken, als wäre ihm kalt. »Irgendwas knallte mir im Supermarkt an den Hinterkopf, und dann bin ich hier erwacht. Mann, tut das weh! Vor allem im Bauch. Es fühlt sich an, als fräße sich etwas durch die Magenwand. Oh, ich hab’s satt, das Sterben. Dies ist schon das zweite Mal … Und weißt du, was das Schlimmste ist? Das Allerschlimmste?«
    Benjamin sah in das verzerrte Gesicht hinab und wartete. Auf der rechten Wange, dicht bei der Nase, bemerkte er einen grünen Fleck: Farbe, die Wasser und Schweiß getrotzt hatte.
    »Das verdammt nochmal Schlimmste am Tod ist, dass er stiehlt! Hast du gehört, Kumpel? Der Tod ist ein Dieb. Er klaut etwas aus unserem Gedächtnis und macht sich damit auf und davon.«
    »Was klaut er?«
    »Jedes Mal, wenn wir sterben, vergessen wir etwas. Kleine Dinge, oder auch große. Kommt ganz darauf an. Mann, hoffentlich habe ich nicht vergessen, wie man malt!«
    »Der Tod ist ein Dieb …«, murmelte Benjamin. Die Worte berührten etwas in ihm.

    »Er klaut Erinnerungen«, sagte Velazquez mühsam. »So wie der Supermarkt unsere Waffen klaut.«
    »Was?«, fragte Benjamin geistesabwesend.
    »Hat’s wieder das weiße Licht gegeben?«
    »Ja.«
    Velazquez schnaufte. »Dann sind die Waffen futsch. Erst werden sie so heiß, dass man sie fallen lassen muss, und dann verschwinden sie.«
    »Der ganze Supermarkt ist verschwunden.«
    »Meine Güte, dann muss es richtig schlimm gewesen sein. Ich hab’s einmal erlebt, vor knapp fünf Jahren, als Dago zum letzten Mal versucht hat, uns die Fundgrube wegzuschnappen. Der Supermarkt mag keine Gewalt.« Velazquez stöhnte erneut. »Und ich auch nicht. Das mit den Waffen könnte für Hannibal zu einem echten Problem werden. Wir haben nur noch wenige, und wenn die Streuner vor uns das Arsenal finden, das es irgendwo am Stadtrand geben soll …« Seine Stimme wurde immer leiser und verklang, bevor er den Satz beendete.
    Benjamin starrte erschrocken auf ihn hinab und befürchtete zuerst, dass es zu Komplikationen gekommen war. Doch dann wiesen regelmäßige Atemzüge darauf hin, dass Velazquez eingeschlafen war. Vielleicht lag darin das »Geheimnis« der Medizin; vielleicht half sie vor allem dadurch, dass sie entspannte und Schlaf brachte.
    Benjamin stand auf, wandte sich aber nicht sofort vom Bett ab und beobachtete den Schlafenden, aus dessen Gesicht der Schmerz verschwunden war. Der Tod ist ein Dieb, dachte er. Was hat er mir gestohlen?

12
    Was habe ich vergessen, als ich gestorben bin?, fragte sich Benjamin, als er Velazquez’ Zimmer verließ und durch den langen Flur des Hospitals schritt. Es war eine paradoxe Frage, denn wenn er in der Lage gewesen wäre, sie zu beantworten, hätte er gar keinen Grund gehabt, sie zu stellen. Im Supermarkt hatte Velazquez ihn gefragt, was er im Leben gewesen war, und Benjamin hatte sich nicht daran erinnert. Es fiel ihm auch jetzt nicht ein. Er entsann sich an die Firma, an Projekte und daran, dass er zu viel gearbeitet und zu oft an die Arbeit gedacht hatte, die ihm wichtiger als alles andere gewesen war. Bis zu jenem Tag, als Kattrin ihn so traurig angesehen und ihm gesagt hatte, dass sie das nicht mehr ertrug. Er glaubte, sie vor sich zu sehen, in ihren großen Augen ein an Verzweiflung grenzender Kummer, und die Erinnerungen wurden so schwer, dass Benjamin im Treppenhaus des Hospitals stehen blieb, an einem Fenster, durch das man drei der sieben Hügel der Stadt sehen konnte. Ich bin achtunddreißig, hatte Kattrin bei der Aussprache am Tag vor dem fatalen Unfall gesagt. Wir wollten Kinder haben, erinnerst du dich? Zwei, vielleicht sogar drei.
    Wir wollten ein paar Jahre warten, hatte er erwidert. Bis ich in der Firma nach oben gekommen bin, bis ich einen guten Posten habe und genug Geld verdiene. Und Kattrin sagte: Ben, inzwischen sind fünfzehn Jahre vergangen. Ist dir eigentlich klar: Ich bin mittlerweile so alt geworden, dass es riskant wird, Kinder zu

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